Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Der Begriff 'Kontext'

Voriges Kapitel Nächstes Kapitel

Was verstehen wir unter dem Begriff "Kontext"? Die Antworten darauf sind, wie Schmitt (1993: 326) feststellt, "in der wissenschaftlichen Diskussion teilweise sehr unterschiedlich ausgefallen". Verschiedene Schulen und Forschungsrichtungen haben sehr verschiedene Zugänge dazu gefunden, welche dieser schwer voneinander abgrenzbaren Elemente für die Interpretation von Äußerungen nun wirklich relevant sind und wie die Beziehung zwischen Text und Kontext zu fassen ist.

Schon bei Malinowski (1923) finden sich Aussagen zu zwei Aspekten, die in späteren Untersuchungen mit Bezug zum Thema Kontext eine zentrale Stellung einnehmen werden. Zum einen fordert Malinowski mit dem Argument, dass eine sinnvolle Beschreibung von Sprache nur dann möglich ist, wenn sie auch den situativen, d.h. extralinguistischen, Kontext der Äußerungen mit einbezieht, eine Ergänzung der reinen Sprachwissenschaft durch ethnographische Beschreibung. Diese Forderung ist heute besonders in der interaktionalen Soziolinguistik und der Ethnographie der Kommunikation zentral. Letztere Schule, deren klassische Methode das 'SPEAKING'-Modell von Dell Hymes ist, versteht unter 'Kontext' demnach

jede relevante Hintergrundinformation über Sprecher, Situation, Hintergrundwissen usw., die zu einem möglichst umfassenden Verständnis der sprachlichen Interaktion beträgt.
Gruber 1994: 51

Zum zweiten verwischt Malinowski die Grenzen von Text und Kontext mit einer Sichtweise, die Sprache nicht als äußerliche Reflexion von Gedanken, sondern - genau wie extralinguistisches Verhalten - als Form von praktischem Handeln versteht. Dieser Gedanke, zentral in der Sprechakttheorie - programmatisch formuliert im Titel von Austins grundlegendem Werk How to Do Things with Words (1962) - ist mitbestimmend für die Konzeption des Kontextbegriffs in diesem Ansatz. Sprache als Form von praktischem Handeln erfordert als Voraussetzung dafür den Teilnehmern gemeinsame Strukturen von Hintergrundwissen, die die Identifikation und Interpretation des Sprechakts ermöglichen. Gleichzeitig sind die sozialen Umstände, die bei der Produktion eines Sprechakts vorliegen, elementare Voraussetzung für die Geglücktheit des Sprechakts.

Diese beiden Dimensionen von Kontext - die kognitive und die situative Dimension - werden auch in den meisten anderen Ansätzen vorausgesetzt, so auch in der Konversationsanalyse. Zusätzlich jedoch bringt die Konversationsanalyse durch ihren Fokus auf die sequentielle Organisation der Konversation einen weiteren Aspekt in den Vordergrund: den des Ko-Text. Jede Äußerung wird durch den sie umgebenden Kotext kontextualisiert und bildet gleichzeitig selbst Kontext für den Kotext: so kann eine beliebige Äußerung etwa nur dann als 'Antwort' gelten, wenn sie auf eine Frage folgt; gleichermaßen definiert sich eine 'Frage' dadurch, dass sie eine Antwort erfordert. Im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses steht also der formal-strukturelle Aspekt von Kontext. Folglich wird kein Wert auf konkrete sprachliche Realisierungsformen und die ihnen immanente Sprach- und Kulturspezifik gelegt; man versucht vielmehr,

aus einem sozialen Interaktionsgeschehen ... formale Prinzipien zu extrahieren, die selbst keine Spuren mehr des spezifischen Kontexts, aus dem sie herausgefiltert wurden, aufweisen.
Bergmann 1994: 8
, zitiert nach Schmitt 1993: 340 [sic!]

Dieser Ansatz bedingt eine Dualität von Kontextfreiheit und Kontextsensitivität: allgemein gültige, per definitionem kontextfreie Prinzipien manifestieren sich lokal - im Kontext - unterschiedlich (vgl. Schmitt 1993: 341f. ).

Es lassen sich also zumindest drei Dimensionen von Kontext unterscheiden: erstens die soziale bzw. situative Komponente der extralinguistischen 'äußeren Umstände', zweitens Hintergrundwissen der Teilnehmer und drittens der unmittelbare Kotext bzw. die linguistische Umgebung der jeweiligen Äußerung. Bußmanns Lexikon der Sprachwissenschaft (2. Aufl. 1990) enthält in etwas anderer Gliederung dieselben Elemente:

Als umfassender Begriff der Kommunikationstheorie bezeichnet K[ontext] alle Elemente einer Kommunikationssituation, die systematisch das Verständnis einer Äußerung bestimmen: den verbalen und non-verbalen (z.B. mimischen) K., den aktuellen K. der Sprechsituation und den sozialen K. der Beziehung zwischen Sprecher und Hörer, ihrem Wissen und ihren Einstellungen.

Ähnliche Faktoren nennt auch Schegloff (1992: 195) , kategorisiert nach zwei Typen von Kontext, von denen traditioneller Weise ausgegangen wird: der "external" bzw. "distal context" umfasst Faktoren wie ethnische und Schichtzugehörigkeit, Gender, Macht und das institutionelle sowie kulturelle Setting; der Kategorie "intra-interactional" oder "proximal context" sind etwa das Genre, das speech event und die Rollen der Teilnehmer in diesem Ereignis (etwa "initiator" oder "recipient of a topic") zuzuordnen.

Das Konzept 'Kontext' scheint also doch fassbar zu sein. Allerdings handelt es sich bei den genannten Definitionsversuchen entweder um eine 'post hoc'-Auflistung von Elementen, die nach Ansicht des jeweiligen Untersuchenden für das Untersuchte relevant sein könnten, oder aber - wie Schiffrin (1994: 363) feststellt - um eine Negativdefinition: "[c]ontextual information is always information that is identified in relation to something else that is the primary focus of our attention". Kontext ist also all das, was außerhalb des Fokus unserer Aufmerksamkeit, etwa einer Äußerung, liegt - eine potentiell unendliche Menge an Phänomenen. In etwas sarkastischer Zuspitzung formuliert Schegloff (1992: 194) :

Because any demarcation of a segment of an actually occurring interaction or occasion of language use as an object of analysis will necessarily leave some portion or aspect(s) of it unincluded, there will always and inescapably be something which can be claimed to be context for what has been focused on.

Eingeschränkt wird diese unendliche Menge dadurch, dass nur jene Elemente zum Kontext zählen, die systematisch das Verständnis des für die Analyse gewählten Aspekts bestimmen (vgl. Bußmann 1990: "Kontext" ). Eine derartige Definition führt aber unweigerlich in einen Zirkelschluss oder eine Tautologie: Kontext definiert sich als Information, die das Verständnis einer Äußerung bestimmt; eine Äußerung wird durch kontextuelle Informationen interpretierbar gemacht.

Ein ähnliches Problem ergibt sich auch auf einer höheren Ebene. Wie Schegloff (1992: 195f. ) feststellt, kann es unendlich viele Beschreibungen sowohl des external wie des intra-interactional context geben, die alle gleichermaßen zutreffend sind: der springende Punkt ist dann, welche dieser unendlich großen Menge der möglichen Charakterisierungen des Kontext als relevant - und zwar für die Teilnehmer relevant - nachgewiesen werden kann. Dass eine Interaktion beispielsweise im Gerichtssaal stattfindet, muss nicht heißen, dass sie etwas mit Recht zu tun hat - eine Beschreibung, die anführt, dass es sich um einen nordseitig gelegenen Raum handelt, könnte genauso zutreffend sein. Doch auch hier ergibt sich ein Zirkelschluss:

If one is concerned what something in interaction was for its participants, then we must establish what sense of context was relevant to those participants... And we must seek to ground that claim in the conduct of the participants; they show (...) what they take their relevant context and identities to be.
Schegloff 1992: 196 [Hervorhebung im Original]

Die Frage, was gerade vor sich geht, bedarf also zur Erklärung des Kontexts; der relevante Kontext ergibt sich aus der Beobachtung dessen, was vor sich geht. Zudem: selbst wenn man einen Aspekt ausfindig machen konnte, der für die Teilnehmer in dieser Interaktion zweifelsfrei relevant ist, heißt das noch nicht, dass dieser Aspekt auch für jeden Aspekt des Verhaltens der Teilnehmer relevant ist - so ist bei einer Unterhaltung über ein medizinisches Thema die Tatsache, dass es sich bei den Teilnehmern um zwei Ärzte handelt, sicherlich relevant für viele Komponenten ihres Verhaltens, nicht aber für die Art, wie sie etwa taktgebende Handgesten einsetzen (vgl. ibid. ).

Dass für das Verständnis von Kommunikation - gleichermaßen im Alltag wie in der wissenschaftlichen Betrachtung - irgendeine Form von Kontext auf irgendeine Art und Weise relevant sein muss, ist wohl unbestritten. Tatsächlich gehen einige Ansätze aber noch wesentlich weiter in ihrer Einschätzung der Relevanz des Kontext, wobei Coulter (1994: 690) besonders in dekonstruktionistischen und post-strukturalistischen Ansätzen gar Tendenzen zur 'Mystifikation' dieses Faktors feststellt. Bezogen auf die soziologische Adaption des hermeneutischen Zirkels auf die Beziehung von Text und Kontext - "every 'text' is a function of its context and every 'context' is a function of a text” - wirft Coulter (1994: 695) den Vertretern dieser Ansätze vor, dass sie "tend to ignore or under-emphasise the second aspect of this 'circle'", nämlich dass Kontext auch aus dem Text selbst geschaffen wird. Statt davon auszugehen, dass die Bedeutung eines Textes nur durch den Kontext bestimmt wird, müsse man sich nach Coulter mit dem Gedanken anfreunden, dass ein Text bis zu einem gewissen Punkt auch seinen eigenen Kontext mitbringt und dass es durchaus Texte gibt, zu deren Verständnis kein oder nur ein minimaler extralinguistischer Kontext bekannt sein muss. In der Tat muss ja ein Text, um überhaupt als ein solcher gelten zu können, "as a condition of its sheerly minimal intelligibility, contain its own possibilities of contextualisation, set its own limits upon what a relevant context could possibly be for that text” (Coulter 1994: 690, Hervorhebung im Original ).

Coulter warnt auch vor einer Überbewertung der Rolle der Interpretationsleistung der Kommunikationsteilnehmer in alltäglichen Kommunikationssituationen:

For 'interpreting' to be relevant, there must be some situated sense that what is being characterised cannot be heard, read, grasped or acknowledged in terms of ordinary expectations or understandings: an 'interpretation' is a kind of hypothesis, whereas many contextual specifications which are adduced in the course of our lives are determinate, unproblematic, and as exhaustive of relevant details as anything could be.
Coulter 1994: 696f.

In anderen Worten sind die Inferenzprozesse, die Text und Kontext miteinander verbinden, nach Coulters Meinung in vielen Fällen bereits so konventionalisiert und automatisiert, dass keine Hypothesenbildung mehr notwendig ist - das kontextualisierte Element wird nicht 'interpretiert', sondern schlicht und einfach 'verstanden'.

Auch wenn es diese Einwände gegen eine Überbewertung des Kontextfaktors nahe legen, hat die Struktur und Organisation von Kontext im Vergleich zur formalen Struktur der Sprache bislang wenig systematische Untersuchung erfahren. Der Grund dafür liegt laut Goodwin und Duranti (1992: 10) in der "fundamental asymmetry of the figure-ground relationship of focal event and its context" [Hervorhebung im Original]. Die Struktur des kontextualisierten Elements ist meist wesentlich zugänglicher als der "more amorphous background" (ibid. ) des Kontext, wodurch der Löwenanteil der Aufmerksamkeit dem focal event zufällt. Das mag ein Grund dafür sein, dass das Konzept weiterhin vage bleibt; eine Tatsache, die allerdings sogar einen gewissen Vorteil für jene Schulen bietet, die am meisten auf der Relevanz der kontextuellen Faktoren bestehen, wie Schegloff (1992: 198) wiederum leicht sarkastisch anmerkt:

Given that context can be taken to refer to anything outside the boundaries of the unit of analysis, it is hard to contest the principle of the "decisive relevance of context".

Es zeigt sich also, dass "a single, precise, technical definition" des Kontextbegriffs (Goodwin & Duranti 1992: 2 ) zum momentanen Zeitpunkt noch nicht in Sicht ist. Allerdings ist fraglich, ob eine derartige Definition überhaupt unbedingt erforderlich ist oder ob es nicht auch durchaus möglich sein kann, auch mit einer lediglich vagen Vorstellung der möglicherweise relevanten Faktoren zu relevanten und wissenschaftlich validen Ergebnissen zu kommen. Möglicherweise genügt es ja, sich dem Phänomen in einem hermeneutischen Zirkel quasi tangential anzunähern und uns darauf einstellen, dass wir "eventually ... might have to accept that such a [single, precise, technical] definition may not be possible" (Goodwin & Duranti 1992: 2 ). Um den Bogen zurück zum Anfang dieses Kapitels zu schlagen:

At the moment the term ['context'] means quite different things within alternative research paradigms ... [this] is not a situation that necessarily requires a remedy.
ibid.


 Zum Anfang dieser Seite Nächstes Kapitel

© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann