Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
Kontextualisierung |
Das Konzept der Kontextualisierung (contextualization) wurde erstmals
1976 von John Gumperz und Jenny Cook-Gumperz
formuliert, 1982 von Gumperz
in Discourse Strategies
weiter entwickelt und seither in einer Reihe von
Publikationen ausgefeilt. Die Theorie wurde zur Grundlage zahlreicher Arbeiten
im anglo-amerikanischen Raum, deren einige etwa in den jeweils 1992 erschienenen
Sammelbänden Rethinking Context (Goodwin & Duranti, eds.)
und The
Contextualization of Language, herausgegeben von Peter Auer und Aldo Di
Luzio
, zusammengefasst wurden. Auer selbst ist auch als wichtiger Vertreter
dieses Forschungsparadigmas im deutschen Sprachraum zu nennen. Die vielen
Arbeiten, die seit den achtziger Jahren unter dem Titel 'Kontextualisierung'
entstanden sind, sind aber - gewissermaßen - nur schwer unter einen
konzeptuellen Hut zu bringen (vgl. Auer 1992: 1
), weil ihre Autoren aus
verschiedenen wissenschaftlichen Traditionen kommen und unterschiedliche
Zugangsweisen haben.
Diese Diversität kann vielleicht als Reflexion der eklektischen Genese des
Konzepts angesehen werden. Gumperz' Ansatz integriert Ideen aus verschiedenen
Disziplinen. Schmitt (1993: 328f.)
nennt in seiner Überblicksdarstellung ein
breites Spektrum an wissenschaftlichen "Vorläufer[n] und Artverwandte[n]" der
Kontextualisierungsforschung:
die Tradition der amerikanischen "Kontextanalyse"...[,] die Ethnographie der Kommunikation, die Diskursanalyse, die Ethnomethodologie und Konversationsanalyse, die kognitive Anthropologie, die linguistische Pragmatik, die Mikroethnographie; daneben Autoren wie Gregory Bateson, Erving Goffman, Edward T. Hall und H. Paul Grice.
Konkret stellt Gumperz in der von ihm begründeten interaktionalen
Soziolinguistik den soziolinguistischen Ansatz im Sinne Labovs in Frage, der
davon ausgeht, dass linguistische Variabilität mehr oder weniger ausschließlich
von sozialen Variabeln bedingt sei (vgl. Gumperz 1982: 130
) - dass also
beispielsweise gewisse phonologische Charakteristika auf Faktoren wie Alter,
Geschlecht oder sozialer Schicht des Sprechenden zurückgehen. Gumperz bestreitet
diesen Zusammenhang nicht, ist aber der Ansicht, dass eine derartige Konzeption
zu kurz greift. Linguistische Variabeln sind nicht bloß ein unwillkürliches
Spiegelbild der sozialen Identität des Sprechenden: sie können auch innerhalb
einer Interaktion eingesetzt werden, um metakommunikativ etwas über die
Interaktion oder über einen Sprechakt auszusagen
. Das heißt: bestimmte
sprachliche Elemente, so genannte Kontextualisierungshinweise, haben die
Funktion, den Rezipienten auf den
Kontext zu verweisen, in dem er/sie das
kontextualisierte Element - sei es die gesamte Interaktion oder ein Sprechakt -
interpretieren soll.
Der Begriff der Kontextualisierung "bezieht sich" demnach
auf die konstitutiven Leistungen der Interaktionspartner, mit
denen sie in ihren Interaktionen Kontexte sprachlich oder durch
sprachbegleitende Signale hervorbringen und relevant machen und mit denen sie
ihre jeweiligen Aktivitäten wechselseitig interpretierbar und erschließbar
machen.
Selting 1995: 8 [Hervorhebung im Original]
Dieses auf den ersten Blick komplexe Konzept wird ausgezeichnet illustriert
durch eine musikalische Metapher. Auer (1992: 1ff.)
stellt eine Passage aus
Bachs Matthäuspassion vor, in der der Chor der Hohepriester den folgenden Text
an den gekreuzigten Christus richtet: "Ist er der König Israel, so steige er nun
vom Kreuz, so wollen wir ihm glauben." Die musikalische Ausgestaltung dieser
Passage, nämlich eine plötzliche Modulation nach C-Dur, zeigt dem aufmerksamen
Zuhörer, dass die Worte nicht als ernsthafte Versicherung, sondern als Spott zu
verstehen sind: "Music provides the cues for counter-reading, revealing the 'true'
interpretation of these lines" (Auer 1992: 2)
.
Auer stellt nun die Frage, wie es möglich ist, dass das abstrakte System der
Musik die Interpretation der "much more 'meaningful' linguistic signs" (ibid.:
3
) steuern kann. Die Antwort liegt nach seiner Analyse in zwei Punkten: zum
einen bemerkt der Hörer einen plötzlichen Harmoniewechsel, zum anderen fällt der
Charakter dieses Wechsels auf - mitten im komplexen Wechselspiel von Punkt und
Kontrapunkt gibt es plötzlich eine kurze Passage voll unerwarteter Klarheit und
fast naiv anmutender Einfachheit. Diese beiden Faktoren haben zwei Effekte, die
auch für das Konzept der Kontextualisierung von entscheidender Relevanz sind:
Konkret widerspricht hier die Klarheit und Naivität der Passage der durch den narrativen Kontext der Handlungen der Hohepriester beim Hörer aufgebauten Erwartungshaltung und führt dadurch zu einem intuitiven Interpretations- und Schlussfolgerungsprozess, einer Inferenz, mit dem Ergebnis, dass die Äußerungen ironisch gemeint sein müssen.
Um diese Metapher auf den eigentlichen Gegenstandsbereich umzulegen:
The idea that lies at the heart of Gumperz' concept of
contextualization is that everyday language has to be 'orchestrated' and 'put
to music' by everyday language-users just as well; as Bach uses music to
steer the interpretation of language, everyday speakers use a repertoire
of vocal and non-vocal means for the same purpose. In both cases, the
semiotic resources employed are crucial in order to create the proper
context, in which the verbal message is to be understood.
Auer 1992: 3f. [Hervorhebung im Original]
Und er kommt zu der folgenden viel zitierten Definition:
In most general terms, contextualization therefore comprises all
activities by participants which make relevant, maintain, revise, cancel...
any aspect of context which, in turn, is responsible for the
interpretation of an utterance in its particular locus of occurrence.
ibid.: 4 [Fettdruck im Original]
Kontextualisierung bezeichnet also eine sprecherseitige Bezugnahme auf jene kontextuellen Faktoren, die den kognitiven Hintergrund für die Interpretation jeder spezifischen Äußerung bilden sollen.
Aufgrund dieser
apparently paradoxical idea that utterances could somehow carry with
them instructions about how to build the contexts in which they should be
interpreted
Levinson 1997: 25
wird innerhalb der Kontextualisierungsforschung zunächst eine konzeptuelle Neuorientierung und Dynamisierung im Bereich des Kontextbegriffes notwendig. Jene "vocal and non-vocal means”, derer sich die Interaktionsteilnehmer bedienen, um wiederum kontextuelle Aspekte hervorzuheben, zu revidieren oder auszulöschen, bezeichnet Gumperz als Kontextualisierungshinweise (contextualization cues). Typische Beispiele sind prosodische Phänomene und code-switching. Kontextualisierungshinweise sind in hohem Maße kulturspezifisch und weisen typischerweise die beiden oben erörterten Eigenschaften auf: zum einen einen plötzlichen Wechsel in der 'Orchestrierung' der Sprache, der die Aufmerksamkeit des Rezipienten auf sich zieht, und zum zweiten gewisse Assoziationen, die die Interpretation des kontextualisierten Elements in eine bestimmte Richtung leiten. Diesen Interpretationsprozess bezüglich der kommunikativen Absichten des Interaktionspartners nennt Gumperz kommunikative Inferenz (conversational inference).
Für das Gelingen eines solchen Inferenzprozesses ist zunächst das Erkennen der relevanten Elemente als Kontextualisierungshinweise erforderlich. Der Interpretationsprozess selbst schließlich
requires first of all judgements of expectedness and then a search for
an interpretation that makes sense in terms of what we know from past
experience and what we have perceived.
Gumperz 1982: 170
Auch in der Kontextualisierungstheorie sind also Erwartungsstrukturen von entscheidender Bedeutung. Wie jede Situation wird auch eine Interaktion an erfahrungsbasierten Erwartungen gemessen. Jedes Element der Interaktion wird danach beurteilt, ob es in den unserer Meinung nach vorherrschenden Rahmen passt; je nachdem, wie diese Beurteilung ausfällt, wird nach einer passenden Interpretation dafür gesucht. Gumperz geht explizit von Goffmans Rahmenbegriff aus; als gesprächsspezifischen Typ von Rahmen verwendet er zusätzlich den Begriff der speech activity.
Die Interpretation von Kontextualisierungshinweisen wird also hochgradig vom vorherrschenden Rahmen geleitet - und umgekehrt: welche speech activity gerade gilt, wird unter anderem von Kontextualisierungshinweisen signalisiert. Kontextualisierungshinweise leiten die Interpretation bzw. führen zu Inferenzen auf zwei ineinander verzahnten Ebenen: auf der globalen Rahmen- und der lokalen Sprechaktebene.
[C]onversational inference involves several levels of inferencing. At
the level of activity, it signals what the interaction is about and what
the expectations are in terms of which coherence is established. At the
local level, that is, the level of utterance, turn of speaking,
interactional move or perhaps speech act, contextualization plays a major
role in our assessment of illocutionary force.
Gumperz 1992a: 46
Ähnlich kategorisiert auch Schmitt, fügt aber aus seiner konversationsanalytischen Perspektive noch eine weitere Ebene hinzu:
Ebene des konversationellen Managements
lokale Einschätzungen unter einer pragmatischen Perspektive: kommunikative Absicht
globale Rahmungen hinsichtlich komplexer sozialer Aktivitäten
Die Möglichkeiten der Kontextualisierung auf dieser niedrigsten Ebene beschreibt Schmitt so:
Hier werden z.B. Informationen hinsichtlich möglicher turn
constructional units kommuniziert (ist ein Sprecher dabei, seinen Beitrag
abzuschließen, wird gerade eine Nebensequenz realisiert, wird gerade eine
neue Information gegeben etc.).
Schmitt 1993: 336
Da derartige Konventionen aufgrund der technischen Gegebenheiten in der Chat-Kommunikation stark von jenen der Face-to-Face-Interaktion abweichen müssen, läge eine detaillierte Betrachtung von Kontextualisierungskonventionen auf dieser Ebene außerhalb des Skopus der vorliegenden Arbeit. Daher werden im entsprechenden Unterkapitel des Abschnitts Ergebnisse lediglich einige allgemeine Beobachtungen getroffen.
Diese Ebene "deals with something like the conversational analyst's preference
organisation” ([Gumperz im Gespräch mit] Prevignano & Di Luzio 1997: 12
).
Konkret geht es um "local inferences concerning what is intended with any one
move and what is required by way of a response” (ibid.). Schmitt (1993: 342)
bezeichnet Kontextualisierungsprozesse auf dieser Ebene als "Kontextualisierung
erster Ordnung”. Hier spielt der Ko-Text als Kontext eine gewichtige Rolle. Ein
Beispiel findet sich etwa im Konzept des Adjazenzpaares: eine Äußerung kann
nicht aufgrund kontextfreier phonologischer, syntaktischer oder semantischer
Kriterien als 'Antwort' identifiziert werden, sondern nur dadurch, dass ihr eine
Frage vorangeht, also aufgrund ihrer sequenziellen Position innerhalb der
Interaktion. Diese Art der Kontextualisierung ist interaktive Routine und
geschieht in jeder Kommunikation permanent. Kontextualisierung auf der
Sprechaktebene ist allerdings auch mit der dritten Ebene, jener der globalen
Rahmungen, eng verbunden:
The hypothesis is that any utterance can be understood in numerous ways,
and that people make decisions about how to interpret a given utterance
based on their definition of what is happening at the time of interaction.
Gumperz 1982: 130
Das heißt, dass die Interpretation der illocutionary force eines beliebigen Sprechakts von der Definition des geltenden Rahmens bzw. des Typus der speech activity abhängt. Im vorliegenden Datenmaterial finden sich Kontextualisierungskonventionen auf Sprechaktebene vornehmlich in den Bereichen Ironie und Emphase.
Kontextualisierung auf der Rahmenebene behandelt
global inferences of what an exchange is about and what mutual rights
and obligations apply, what topics can be brought up, what is wanted by
way of reply, as well as what can be put into words and what is to be
implied...
[Gumperz im Gespräch mit] Prevignano & Di Luzio 1997: 12
- kurz, "what Goffman calls 'framing'” (ibid.
).
Kontextualisierungshinweise signalisieren hier also, welcher Rahmen bzw.
welche speech activity gerade vorliegt - im vorliegenden
Datenmaterial konnten zahlreiche Phänomene
identifiziert werden, die auf dieser Ebene wirksam werden.
Die Funktionen dieser Ebenen der Kontextualisierung sind eng ineinander
verzahnt. Gumperz' Verständnis von Rahmen ist "the activity level
presuppositions that affect interpretations at any one point in an exchange" (im
Gespräch mit Prevignano & Di Luzio 1997: 22
). Die Rahmenebene leitet also die
Interpretation auf den anderen Ebenen und trägt damit dazu bei, "die potentielle
Ambiguität auf den anderen Ebenen zu minimieren" (Schmitt 1993: 336
). Das
konversationelle Management und die Interpretation der Sprechaktebene dagegen
tragen dazu bei, die globalen Rahmungen in der konkreten Situation zu erkennen,
zu konstituieren und langfristig aufzubauen und zu modifizieren.
Wenn also kommunikative Inferenz erst durch die Identifikation und Definition des vorherrschenden Rahmens ermöglicht wird und letzteres auf kulturspezifischen Kontextualisierungshinweisen beruht, wird deutlich, dass die kulturelle Verortung im Herzen der Kontextualisierungstheorie liegt:
[I]f conversational inference is a function of identification of
speech activities, and if speech activities are signalled by
culturally specific linguistic signs, then the ability to maintain,
control and evaluate conversation is a function of communicative and
ethnic background.
Gumperz 1982: 167
Auf Basis dieses Gedankens führten Gumperz und seine Mitarbeiter zahlreiche Untersuchungen zu interkultureller Kommunikation durch und konnten überzeugend darlegen, dass viele Missverständnisse in derartigen Situationen nicht auf unterschiedliche Kompetenzen in Phonologie, Syntax oder Semantik zurückgehen, sondern auf divergierende Kontextualisierungskonventionen. In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass der Kern der in den untersuchten Protokollen interagierenden Chatter tatsächlich eine eigene Gemeinschaft und Mikrokultur bildet. Die Ergebnisse können daher nicht ohne weiteres auf andere Chat-Gemeinschaften übertragen werden. Dennoch werden gewisse zentrale Konventionen sicherlich von einer größeren österreichischen, deutschsprachigen oder sogar internationalen Chat-Makrokultur geteilt.
Selbstverständlich gibt es auch Einwände gegen Gumperz' Ansatz bzw. den zu
Anfang dieses Kapitels erwähnten gewissen Wildwuchs an unter 'Kontextualisierung'
subsumierten Arbeiten. Letzterer demonstriert eine "'großzügige' Rezeption"
(Schmitt 1993: 328
) von Gumperz' Ansatz, bedingt teils sicherlich durch die
vielfältigen Einflüsse, die darin eingegangen sind, teils aber wohl auch durch
eine gewisse Vagheit bzw. 'fuzziness' (vgl. Auer 1992: 33
) des Konzepts. Um
dieser zu begegnen, unterscheidet Auer anhand der Form der
Kontextualisierungshinweise zwischen einer engen und einer weiten Auffassung
von Kontextualisierung und damit der Kontextualisierungsforschung. In der
vorliegenden Arbeit soll die Kontextualisierungstheorie in ihrer engen Form
angewandt werden.
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© Alexandra Schepelmann 2002-2003