Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Exkurs

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Ein Script zum Nasenbohren

Im Abschnitt Satzzeichen dienen Ausschnitte aus einer Interaktion als Beispiel, die hier zur Gänze wiedergegeben werden soll. Auslöser ist ein Script, das von gewissen Teilnehmern verwendet wird, um automatisch Informationen wie das gerade bei dem Betreffenden laufende Musikstück in den Chatroom zu übertragen – nicht unbedingt von entscheidender Wichtigkeit. NickName1 kommentiert ein stolz demonstriertes Beispiel für diese Praxis mit dem sarkastischen Szenario eines Scripts, das automatisch ähnlich Nebensächliches in den Chat-Kanal vermittelt:

(1) NickName1: werd ma auch so was einrichten wenn ich an furz lass das es dann am schirm steht oda wen ich nasenbohren tu
NickName1: hehe
NickName2: lol
NickName1: man die vorstellung alleine wenn das alle hätte Muahahahahaha
NickName3: furchtbar
NickName3: ich würd mich dauernd anspeiben
NickName3: und ihr würdets das jedes Mal sehen
NickName2: lol
NickName2: wää
NickName1: NickName3 kratzt sich auf da titte NickName2 zupft auf den Zehen herum NickName1 furtz gerade usw...... mauahhaahahahahah
NickName2: wäääääääääääääääääääääää
NickName2: hehe
NickName2: :-)))

Dieses imaginäre Szenario wirft einige interessante Fragen auf. Einerseits wird hier die Anonymität des Chatrooms mit dem nicht vorhandenen visuellen Übertragungskanal thematisiert, eine Situation, die zwar vielfach beklagt wird, aber offensichtlich auch Vorteile birgt – man kann nasenbohren, sich kratzen oder sich theoretisch gar anspeiben, ohne eine Verletzung seines Face in Kauf nehmen zu müssen. Möglicherweise ist neben der noch geringen Verbreitung von Webcams das ein Grund dafür, dass sich Videochats trotz der mittlerweile durchaus vorhandenen technischen Möglichkeiten immer noch nicht so recht durchgesetzt haben.

Ein zweiter interessanter Aspekt der Vorstellung vom Script, das Nasenbohren und Kratzen auf den Computerschirm bringt, lässt sich mit dem Begriffsinventar von Goffmans Kanal-Begriff beschreiben. Wie im Abschnitt Haupt- und Nebenkanäle ausgeführt, nimmt Goffman (1977 [1974]: 233) einen "ignorierten Kanal" an, dessen Inhalte außerhalb des Rahmens liegen und, um keine Aufmerksamkeit vom Hauptkanal abzuziehen, nicht beachtet werden – die prototypischen Beispiele sind kleinere Anpassungen an das körperliche Wohlbefinden wie Räuspern, sich Kratzen oder die Sitzposition ändern, also genau der Typ von Verhalten, das der Produzent der Beispiele (14) und (22) im Abschnitt Satzzeichen nennt.

Im Chat gibt es normalerweise kein Äquivalent für diesen ignorierten Kanal – alles, was im Chat-Kanal passiert, liegt im Hauptkanal. Wenn ein Teilnehmer angibt, sich zu kratzen, dann tut er das mit voller Absicht und um damit eine kommunikative Absicht zu verwirklichen, denn wollte er, dass dieses Verhalten ignoriert würde, hätte er es ja schlichtweg nicht eingeben müssen. Das von NickName1 vorgeschlagene Script, das Körperfunktionen und Anpassungen an das Wohlbefinden (creature comforts) automatisch allen Teilnehmern zugänglich macht, würde dann im Endeffekt nichts anderes bewirken als IRC einen ignorierten (bzw. zu ignorierenden) Kanal hinzuzufügen, eine Vorstellung, die offensichtlich auf wenig Gegenliebe stößt.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann