Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Haupt- und Nebenkanäle

Voriges Kapitel Nächstes Kapitel

Wenngleich nach Goffmans Analyse jede Situation grundsätzlich durch ihre Rahmung strukturiert wird, so enthält sie doch immer auch Elemente, die nicht Teil des geltenden Rahmens sind:

Betrachtet man eine gewöhnliche, in bestimmter Weise gerahmte Interaktion, so kann man üblicherweise einen Hauptvorgang von einem außerhalb des Rahmens liegenden Hintergrund von Vorgängen unterscheiden. Dem Hauptvorgang gilt die Aufmerksamkeit der Beteiligten, alle anderen Vorgänge, die außerdem noch stattfinden, werden dem untergeordnet, wobei es situationsabhängig ist, welcher Bereich als Hauptvorgang angesehen wird.
Krallmann et al. [o.J.]: 15/21 (Hervorhebung im Original)

Die Beteiligten ordnen also die Elemente einer Situation beständig in einen von mehreren Kanälen ein. Jene Klasse von Vorgängen, die innerhalb des geltenden Rahmens liegen und denen die Aufmerksamkeit der Teilnehmer gilt, nennt Goffman Hauptkanal (Goffman 1977 [1974]: 233 ). Vorgänge auf dem ignorierten Kanal (ibid.) liegen außerhalb des Rahmens und werden, um keine Aufmerksamkeit vom Hauptkanal abzuziehen, nicht beachtet – so zumeist bei kleineren Anpassungen an das körperliche Wohlbefinden wie Räuspern, sich Kratzen oder die Sitzposition ändern. Diese Fähigkeit zum Ausgrenzen gewisser Eindrücke wird häufig auch dazu genutzt, um Ereignisse oder Personen, die konventionell nicht in den vorherrschenden Rahmen passen, systematisch zu ignorieren und dadurch in den ignorierten Kanal zu schieben – oft geschieht das bei schreienden Kindern in verschiedenen Veranstaltungen oder bei öffentlichen Auftritten umstrittener Politiker, die ungeachtet der Zwischenrufe (und im Extremfall fliegender Eier, Tomaten oder Torten) aus dem Publikum ihre Rede weiterführen 'als wäre nichts geschehen'.

Im Gegensatz dazu können Vorgänge, die sich auf dem verdeckten Kanal (Goffman 1977 [1974]: 240 ) befinden, von den Teilnehmern tatsächlich nicht wahrgenommen werden (zum Beispiel Vorgänge außerhalb des Blickfeldes der Beteiligten, aber auch die "inneren Zustände" der Interaktionspartner (ibid. )). Täuschungen können nur durch die Existenz dieses verdeckten Kanals zu Stande kommen.

Für die Face-to-Face-Interaktion nimmt Goffman zudem die Existenz eines Artikulationsstroms (Goffman 1977 [1974]: 234 ) oder (nach Yngve) backchannels bzw. "rückwärtigen Kanals" (Goffman 1977 [1974]: 238 ) an. Dieser befindet sich in einem anderen Rahmen als der Hauptvorgang, steht also nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, kann aber auch nicht ignoriert werden, denn er enthält wichtige Signale für die Strukturierung, und damit die Rahmung, der Interaktion: zum Beispiel "Erkennungszeichen" (Goffman 1977 [1974]: 234 ), die "Handlungen mit Handelnden in Verbindung bringen" (ibid. ), Signale zum Sprecherwechsel oder Rezipienzsignale.


 Zum Anfang dieser Seite Nächstes Kapitel

© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann