Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Fragezeichen

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Das Fragezeichen nimmt unter den Satzzeichen insofern eine Sonderstellung ein, als es prototypischerweise nach Sprechakten gesetzt wird, die eine Reaktion erfordern und damit interaktional von besonderer Signifikanz sind. Anders als beispielsweise beim Punkt ist mit ihm keine konsistente Intonationskontur assoziiert. Chafe bemerkt für das Englische:

Question marks ... provide a good example of punctuation that is at least ambiguous with respect to prosody. Functionally there are two major types of questions: "yes-no” questions and "question-word” questions. Yes-no questions generally exhibit a final rising pitch, question-word questions, a falling pitch. ... That both ... are written with question marks ... shows that function can override prosody in some cases[.]
Chafe 1988: 403

Es muss also davon ausgegangen werden, dass das Fragezeichen als Signal nicht primär zur Signalisierung eines bestimmten prosodischen Musters bei der Subvokalisation dient, sondern eine funktionale Bedeutung hat.

Welche Bedeutung hat das Fragezeichen? Das Österreichische Wörterbuch (38. Aufl. 1997) nennt folgende drei Gebrauchsweisen:

Das Fragezeichen steht:
2.1 Als Satzzeichen nach echten Fragen, die durch wörtliche Fragesätze, Wortgruppen oder Einzelwörter ausgedrückt werden ...
2.2 Als Ausdruck des Zweifels an einer Angabe oder Behauptung ...
2.3 Als Ersatz für "wie viel" (zB in Rechenaufgaben)
Österreichisches Wörterbuch 1997: 64

Im vorliegenden Datenmaterial lassen sich analog zu der im Abschnitt Emoticons getroffenen Unterscheidung zunächst zwei Grundtypen der Verwendung von Fragezeichen unterscheiden: zum einen die traditionelle Verwendung am Ende eines Sprechakts, zum anderen einzelne, allein in einer Zeile stehende Fragezeichen. Betrachten wir zunächst letzteren Typ.

Einzelne Fragezeichen als Sprechakte

In der vorliegenden Arbeit soll davon ausgegangen werden, dass alles, was ein Chat-Teilnehmer durch intentionales Betätigen der Enter-Taste absendet und damit in die Interaktion einbringt, einen eigenen Sprechakt konstituiert, selbst wenn es sich nur um ein einziges Zeichen handelt. Auch ein einzelnes Fragezeichen, das von einem Nutzer in die Interaktion eingebracht wird, erfüllt einen kommunikativen Zweck.

Welcher Zweck ist das im Falle eines Fragezeichens? Die Punkte 2.1 und 2.3 der Liste des Österreichischen Wörterbuchs sind hier wohl getrost auszuschließen. Es bleibt Punkt 2.2 – "Ausdruck des Zweifels an einer Angabe oder Behauptung". Dies würde das Fragezeichen als Kontextualisierungshinweis positionieren, und zwar mit Bezug auf einen Sprechakt. Betrachten wir ein vom ÖWB angeführtes Beispiel:

Eine neue Zimmereinrichtung um 20 000 Schilling (?) zu verkaufen.
ibid. [Kursivtype im Original]

Was hier zum Ausdruck gebracht wird, ist ein bestimmter Rahmen, nämlich, dass diese Aussage zweifelhaft ist – face-to-face hätte man dies vermutlich mit para- bzw. nonverbalen Mitteln vermittelt, im schriftlichen Medium mit Hilfe des Fragezeichens. Die von allein in einer Zeile stehenden Fragezeichen in IRC erfüllte Funktion ist mit dieser ganz sicher verwandt. Welche Funktion dies ist, wird ausgezeichnet an Beispiel (1) ersichtlich – hier formuliert ein Teilnehmer auf die Nachfrage eines anderen Interaktanten die Art seines Sprechakts aus:

(1) NickName1: ?
NickName2: was "?" Nick1?
NickName1: i kenn mi nix aus

Viele weitere Fälle in den Daten stützen diese Interpretation. Häufig findet sich ein solches Fragezeichen als Reaktion auf Insiderwitze oder Interaktionssequenzen, an deren Verlauf der/die Fragende nicht beteiligt war, weil er/sie in einer anderen Sequenz involviert oder nicht am Bildschirm war. Auch hier geht es also um Zweifel bzw. Unsicherheit – allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied, denn im Gegensatz zu der oben illustrierten Verwendung ("20 000 Schilling (?)") bezieht sich das Fragezeichen hier nicht auf eine bestimmte Aussage, sondern auf den state of mind des Produzenten. Nicht ein bestimmter Sprechakt wird in Frage gestellt, sondern der Sprecher zeigt damit an, dass er selbst die Orientierung verloren hat: das Fragezeichen ist also nicht sprechaktbezogen, sondern personenbezogen. Wenn die illocutionary force eines allein stehenden Fragezeichens mit i kenn mi nix aus umschrieben werden kann, dann ist der erwünschte perlocutionary effect dieses Sprechakts folgerichtig die Beseitigung dieses Zustands der Desorientierung. Aus interaktionaler Perspektive betrachtet signalisiert das Fragezeichen also den Wunsch nach einer Erklärung.

Fragezeichen können auch in reduplizierter Form verwendet werden, und genau wie die einzelnen Fragezeichen können auch mehrere dieser Zeichen allein in einer Zeile stehen – oft einfach emphatisch redupliziert, um eine besonders starke Form von Desorientierung zu signalisieren, dass sich der Betreffende nämlich überhaupt keinen Reim mehr auf die Geschehnisse im Channel machen kann. Doch wie wir weiter unten sehen werden, handelt es sich bei mehreren Fragezeichen nicht ausschließlich um Fälle rein emphatischer Reduplikation. Oft müssen mehrere Fragezeichen auch funktional von einzelnen differenziert werden.

Eine zweite Verwendungsmöglichkeit eines allein stehenden Fragezeichens tritt in Beispiel (2) auf:

(2) NickName1: NickName2
NickName2: ?

Hier signalisiert das Fragezeichen eine Reaktion auf NickName1s vorangegangene Äußerung: NickName1 hat NickName2 direkt mit seinem/ ihrem Pseudonym angesprochen. NickName2 signalisiert mit dem Fragezeichen, dass er/ sie anwesend ist und die Anrede zur Kenntnis genommen hat, gleichzeitig aber wird klar, dass er/sie zu erfahren erwartet, welches Anliegen NickName1 an ihn/sie hat.

Solche Anrede/Kenntnisnahme-Sequenzen treten in den vorliegenden Daten überaus häufig auf – zweifellos ein Nebeneffekt des fehlenden visuellen Kanals: man muss sich der Anwesenheit seines Gesprächspartners versichern, sonst kann es passieren, dass man eine lange Äußerung produziert, nur um dann festzustellen, dass der Betreffende die Interaktion zurzeit gar nicht verfolgt. Die häufigste Variante der Kenntnisnahme ist ja bzw. jo, und zwar mit etwa gleicher Frequenz mit und ohne Fragezeichen. Hier darf gemutmaßt werden, dass eine Variante ohne Fragezeichen nur Präsenz und einen offenen Kanal signalisiert, während eine Variante mit Fragezeichen wiederum selbst eine Reaktion verlangt – hier schwingt die Frage nach dem Anliegen des ersten Sprechers mit. Ein allein stehendes Fragezeichen als Reaktion ist der Extremfall dieser Form.

Fragezeichen nach einer Äußerung

Wenden wir uns nun dem zweiten Grundtypen des Einsatzes von Fragezeichen zu: ein Fragezeichen am Ende einer Äußerung. Weiter oben wurde die Vermutung ausgesprochen, dass mit Fragezeichen versehene Zeichen der Kenntnisnahme, z.B. ja?, den Wunsch nach Reaktion signalisieren, während ein ja ohne Fragezeichen nur anzeigt, dass der Angesprochene anwesend und der Kanal offen ist. Vielleicht kann ein Fragezeichen am Ende eines Sprechakts ja generell als konventionelles Zeichen für den Wunsch nach Reaktion angesehen werden. Falls dem so ist, müsste sich dies auch in einer tendenziell höheren Reaktionsrate widerspiegeln – denn ein konventionelles Zeichen muss ja von allen Beteiligten verstanden werden, und wenn es keinerlei Effekt hätte, würde es vermutlich nicht beibehalten werden. Dem Argument, dass ja auf die meisten (nicht rhetorischen) Fragen eine Reaktion erwartet wird und das Fragezeichen demnach nie weggelassen werden dürfte, kann entgegnet werden, dass aufgrund des hohen Zeitdrucks in IRC bekanntlich viel nicht Essentielles weggelassen wird – und nachdem der Großteil der Fragen ja auch syntaktisch als solche erkennbar ist, kann das Fragezeichen (im begrifflichen Rahmen des Ökonomieprinzips) als fakultativ angesehen werden.

Betrachten wir einmal die andere Hälfte der erwähnten Anrede/Kenntnisnahme-Sequenzen. Hier gibt es vier Möglichkeiten: die Anrede kann mit einem Fragezeichen, mit mehreren Fragezeichen oder mit Rufzeichen bzw. Fragezeichen und Rufzeichen versehen sein oder gänzlich ohne Satzzeichen gesetzt werden. Um die Annahme zu überprüfen, dass das Fragezeichen als konventionelles Signal für den Wunsch nach einer Reaktion verstanden wird, wurden in drei verschiedenen Chat-Protokollen alle Fälle von direkter Anrede (also nur allein stehende Pseudonyme ohne weiteren Text in derselben Zeile) gezählt, nach Satzzeichentyp klassifiziert und die Reaktionsrate ermittelt (gezählt wurden nur Reaktionen der angesprochenen Person). Die Ergebnisse sind in folgender Tabelle dargestellt:

  Gesamtanzahl  davon mit Reaktion  Reaktionsrate
NickName? 13 12 92%
NickName??? 5 3 63%
NickName 14 7 50%
NickName! (!?, !!!) 3 3 100%
Tabelle 1: Anrede nach Satzzeichentyp und Reaktionsrate.

Obwohl die relativ geringe Datenmenge Verallgemeinerungen nur bedingt zulässt, lassen sich doch einige Tendenzen ausmachen: es kommt etwa gleich häufig zu einer Anrede durch Pseudonym mit und ohne Fragezeichen. Die Reaktionsrate bei der Variante NickName? liegt mit 92% weit über der Reaktionsrate bei der Variante NickName (-), die nur bei 50% liegt.

Diese Daten lassen den Schluss zu, dass ein Fragezeichen tatsächlich die Wahrscheinlichkeit einer Reaktion erhöht. Eine mögliche Erklärung für die geringe Reaktionsrate bei der Variante NickName (-) könnte sein, dass angenommen wird, die Äußerung des Sprechers sei noch nicht zu Ende – in der Tat wird gelegentlich das Anliegen sofort nach der Anrede geäußert, ungeachtet dessen, ob es zu einer Reaktion gekommen ist oder nicht.

Geht man davon aus, dass ein Fragezeichen am Ende eines Sprechakts den Wunsch nach Reaktion kontextualisiert und zieht man in Betracht, dass Reduplikation ein typisches Signal für Emphase ist, so wäre es nur logisch, anzunehmen, dass reduplizierte Fragezeichen nichts anderes signalisieren als einen besonders dringlichen Wunsch nach einer Reaktion. Der Zusammenhang zwischen einem und mehreren Fragezeichen und Reaktionsrate sollte einer ausführlicheren Untersuchung unterzogen werden. Zu diesem Zweck wurden in acht unterschiedlichen Chatprotokollen alle mit einem oder mehreren Fragezeichen versehenen Äußerungen sowie alle als Fragen identifizierbaren Sprechakte ohne Fragezeichen nach Satzzeichentyp klassifiziert und die jeweilige Reaktionsrate ermittelt. Die Ergebnisse sind in Tabelle 2 dargestellt.

Reaktionsrate ? ??? - Gesamt
Protokoll 1 57% (20/35) 60% (12/20) 58% (14/34) 58% (46/79)
Protokoll 2 60% (18/30) 63% (5/8) 63% (5/8) 61% (28/46)
Protokoll 3 61% (35/57) 33% (1/3) 67% (28/42) 63% (64/102)
Protokoll 4 67% (32/48) 53% (8/15) 64% (14/22) 64% (54/85)
Protokoll 5 69% (34/49) 47% (7/15) 63% (5/8) 64% (46/72)
Protokoll 6 80% (37/46) 53% (10/19) 63% (31/49) 68% (78/114)
Protokoll 7 73% (22/30) 60% (9/15) 71% (10/14) 69% (41/59)
Protokoll 8 85% (40/47) 63% (5/8) 83% (15/18) 82% (60/73)
Gesamt 70% (238/342) 55% (57/103) 66% (122/185) 66% (417/630)
Tabelle 2. Fragen: Zusammenhang zwischen Fragezeichentyp und Reaktionsrate.

Tatsächlich erweist sich, dass Fragen mit einem Fragezeichen im Gesamtschnitt eine geringfügig höhere Reaktionsrate haben als Fragen ohne derartige Markierung; allerdings ist der Unterschied in den meisten Chatsessions gering und die Variation zwischen den einzelnen Protokollen hoch. Was dagegen überrascht, ist die durchwegs niedrigere Reaktionsrate der Fragen, die mit mehreren Fragezeichen gekennzeichnet sind. Dies trifft bis auf die Protokolle 1 und 2, jenen mit der generell niedrigsten Reaktionsrate, in jeder der untersuchten Chatsessions zu. Falls reduplizierte Fragezeichen tatsächlich einen dringlicheren Wunsch nach Reaktion kontextualisieren sollen, sind sie als Kontextualisierungsstrategie offensichtlich nicht besonders erfolgreich – die Tatsache, dass sie sogar seltener, und das erheblich, eine Reaktion erhalten als sowohl Fragen mit einem Fragezeichen als auch Fragen ohne Satzzeichen, lässt darauf schließen, dass dies nicht ihr Hauptzweck sein kann.

Die drei Fragezeichen – qualitative Analyse und Klassifikation

Es soll versucht werden, einen Faktor zu ermitteln, der die durchgängig geringere Reaktionsrate bei den drei Fragezeichen erklärt. Hierzu wurden jene mit mehr als einem Fragezeichen versehenen Äußerungen untersucht, die keine Reaktion erhielten. Die solcherart eruierten Fragen wurden dann nach dem Prinzip des hermeneutischen Zirkels in eine von fünf emergenten Kategorien klassifiziert. Diese Kategorien wurden nach dem durch sie kontextualisierten Rahmen benannt:

  1. Emotionale Beteiligung
  2. Erkenntnisinteresse
  3. Staunen/ Unglauben
  4. Rahmungsproblem
  5. Streben nach Aufmerksamkeit

Natürlich ist eine Klassifikation vieler Fragen nicht ganz eindeutig möglich; es ist anzunehmen, dass viele Fragen mehrere Aspekte in sich vereinen und nicht jeder völlig mit der hier präsentierten Einteilung konform geht. Im Folgenden sollen die Kategorien näher erläutert werden.

1) Emotionale Beteiligung

In Fragen, die in diese Kategorie fallen, haben die drei Fragezeichen einen deutlich expressiven Charakter. Der mit ihrer Hilfe inszenierte Rahmen ist klar personenbezogen und lässt sich etwa so umschreiben: "Ich befinde mich gerade in einem emotional gefärbten seelischen Zustand." Der Grad der Beteiligung kann durch Reduplikation der Fragezeichen signalisiert werden. Einige Beispiele:

(3) wo is meine NickName?????????

(4) hast was gegen meinen nick??????????

(5) was????? so schlimm?????

(6) NickName: pfaaa schaut wer super-g ??
NickName: da maier is wieda a waunsinn

In der Vorgeschichte zu Beispiel (3) versucht eine Teilnehmerin immer wieder, mit einer anderen, ihr bekannten Nutzerin Kontakt aufzunehmen, die sich zwar selbst äußert, aber nicht auf an sie gerichtete Äußerungen reagiert und schließlich den Chatroom verlässt. Beispiel (4) richtet sich an einen Nutzer, der sich über das Pseudonym des Sprechers mokiert hat; (5) ist Teil einer Tröst-Sequenz (siehe unten), und (6) produziert eine Teilnehmerin, die offensichtlich von den Leistungen des österreichischen Schirennläufers Hermann Maier im Super-G sehr beeindruckt ist.

2) Erkenntnisinteresse

In dieser Funktion signalisieren die drei Fragezeichen, dass der Sprecher an der Information, die er mit der mit ihnen versehenen Frage in Erfahrung bringen will, ganz besonders interessiert ist. Dieser Typ ist verwandt mit der reaktionsheischenden Funktion des einzelnen Fragezeichens, bezieht die Dringlichkeit aber eher auf den Inhalt der Antwort als auf die Antwort selbst: dem Sprecher geht es um die Information, weniger darauf, dass seine Äußerung prinzipiell Beachtung findet. Die Daten (6) bis (9) sind Beispiele für diese Verwendungsweise.

(7) was bedeutet eigentlich =) ???

(8) und was hättest du dir nicht gedacht???

(9) NickName1: Wann hast angefangen NickName2 ??
NickName1: zum saugen
NickName3: mit wos ?? *fggg*

Beispiel (7) gehört zu einer Reihe von ähnlich lautenden Fragen nach der Bedeutung des Zeichens =), die eine Chat-Anfängerin an die versammelte Runde von erfahrenen ChatterInnen stellt, auf die sie aber erst eine Antwort erhält, als sie sie konkret an eine bestimmte Person richtet (dieser Fall wird im Abschnitt Nicknames näher erläutert). Beispiel (8) ist selbsterklärend; (9) dagegen ist komplexer: hier handelt es sich vermutlich um einen ironisierten – modulierten – Einsatz der Konvention. NickName1 reagiert mit seiner Frage auf eine Äußerung von NickName2, der dabei ist, eine große Datei aus dem Netz herunterzuladen (zu saugen) und über die lange Ladezeit geklagt hat. Da die Frage nicht ganz klar ist, liefert er etwas verspätet das Objekt nach: er möchte wissen, [w]ann NickName2 angefangen hat zum saugen, worauf er aber zunächst keine Antwort erhält. Mehrere Turns später schaltet sich NickName3 in die Interaktion ein: der Zusatz *fggg* macht ihre Äußerung klar als Teil einer Frotzelaktivität kenntlich, als sie fragt, mit wos NickName2 denn angefangen hätte. Diese frotzelnde Frage ist mit zwei Fragezeichen versehen: durch die dadurch ironisch zum Ausdruck gebrachte Wissbegierde impliziert NickName2, dass es sich um etwas besonders Interessantes handeln könnte – in Assoziation mit dem Wort saugen vermutlich um etwas Unanständiges. NickName2 geht auf diese Erwartung ein – einige Zeilen später äußert er unwirsch ich saug grad selber an meinem ... weißt :P .

3) Staunen/ Unglauben

Ähnlich wie in der oben erwähnten ersten Verwendungsweise von allein stehenden Fragezeichen kann mittels dieser Funktion der drei Fragezeichen ein gewisser Zweifel zum Ausdruck gebracht werden. In dieser Verwendungsweise sind die Fragezeichen eher als sprechaktbezogen anzusehen – ihr Kontextualisierungspotenzial kann vielleicht folgendermaßen umschrieben werden: "Ich hinterfrage etwas, das mich sehr verwundert/ das ich nicht erwartet hätte." Die Daten (10) bis (12) illustrieren dies:

(10) wos durt is a?????

(11) wo ist er denn?????

(12) ja ich hier du auch??? *ggg*

Die Frage in Datum (10) bezieht sich auf eine nach eigenen Angaben 12jährige Teilnehmerin, die durch in jeder Hinsicht unreifes Betragen die Aufmerksamkeit der anderen Interaktanten erregt hat. Trotz mehrfacher Verweise lässt sie von ihrem provokanten Verhalten nicht ab, was dazu führt, dass sie mehrfach von Operators aus dem Channel befördert und schließlich sogar von weniger wohlmeinenden Nutzern genukt wird . Während ihrer Abwesenheit entdeckt einer der Teilnehmer, dass sie auch einen Kanal mit dem Namen #linuxrulz betreten hat – so viel Chuzpe (oder Ahnungslosigkeit) entlockt einer Teilnehmerin die in (10) reproduzierte ungläubige Frage wos durt is a?????. In Datum (11) fragt eine Nutzerin sehr erstaunt nach einem ihr bekannten Teilnehmer, den sie in keinem seiner üblichen Kanäle angetroffen hat, der aber nach den Angaben eines anderen Interaktanten auch gerade chattet. Datum (12) schließlich ist wieder ein Fall einer ironisierten, modulierten Verwendung der Konvention: es handelt sich um eine leicht frotzelnde Reaktion eines Teilnehmers auf die Äußerung einer anderen Interaktantin, die erstaunt konstatiert hat, dass er auch hier sei. Dies nimmt der Betreffende auf und stellt mit gespieltem Erstaunen die Gegenfrage: ja ich hier du auch???. Die Modifikation dieser durch drei Fragezeichen als überaus verwunderlich gekennzeichneten Beobachtung durch *ggg* macht klar, dass es sich um eine ironische Aussage handelt.

4) Rahmungsproblem

Ein weiterer Typ von Frage, bei dem mehrere Fragezeichen eingesetzt werden können, tritt auf, wenn ein Teilnehmer eine Situation oder eine Äußerung überhaupt nicht einordnen kann – er oder sie hat ein Rahmungsproblem. Einige Beispiele:

(13) Nicki *zwickabussi*???

(14) warum das den???

(15) NickName1: ??????
NickName1: NickName2 was ist los

(16) wieso is mei nick no da???

(17) was Hmmmst denn???

(13) äußert eine Teilnehmerin als Reaktion auf ein zweifelhaftes Kompliment eines anderen Nutzers – sie ist sich offenbar nicht sicher, ob sie es als ernst oder sarkastisch auffassen soll. In den Beispielen (14) und (15) bringen zwei Nutzer ihre Desorientierung zum Ausdruck. Die Frage in (16) äußert ein Teilnehmer, der sich nicht erklären kann, wie es möglich ist, dass seine Verbindung zum Chatserver getrennt und er dadurch aus dem Kanal geworfen wurde, aber sein Pseudonym immer noch als eingeloggt angezeigt wird, und in (17) kann ein Nutzer den Grund für das zweifelnde hmmmm eines anderen Teilnehmers nicht nachvollziehen.

5) Streben nach Aufmerksamkeit

Die Fragezeichen, die den Äußerungen in dieser Kategorie hinzugefügt werden, dienen vornehmlich dazu, die Aufmerksamkeit der anderen Interaktanten auf sich bzw. auf den Produzenten zu lenken. Die Beispiele (18) und (19) sollen dies illustrieren:

(18) NickName: wer will die listen von hier haben???
NickName: die wörterlisten
NickName: ??

(19) NickName?????????

In Datum (18) bietet eine Teilnehmerin an, die Channelstatistik, in der die Anzahl von Wörtern, die jeder Nutzer seit Beginn seiner Chat-Tätigkeit bereits geäußert hat, allen im Kanal zugänglich zu machen. Trotz massivem Einsatz von Fragezeichen stößt dieses Angebot anscheinend nicht auf Interesse – die Frage bleibt unbeantwortet. (19) dagegen steht stellvertretend für zahlreiche Daten nach demselben Muster.

Wie oben erwähnt, ist es sehr wahrscheinlich, dass die genannten Kategorien einander überschneiden. Besonders dieser letzte Typ wird selten ganz sortenrein vorliegen – eine Funktion der drei Fragezeichen ist sicherlich fast in jedem Fall das Erregen von Aufmerksamkeit: sie signalisieren dem Rezipienten, dass eine Inferenz erforderlich ist. Eine der wichtigsten Eigenschaften von Kontextualisierungshinweisen ist die Tatsache, dass sie keine stabile, kontextunabhängige Bedeutung besitzen und aufgrund ihrer Funktionsweise auf zwei Ebenen wirksam werden können:

1. Der erste Faktor, die Veränderung an sich, zieht Aufmerksamkeit auf die betreffende Passage und weist dadurch darauf hin, dass sie anders zu interpretieren ist als das umgebende Material.
2. Der zweite Punkt, die mit der Art des Wechsels verbundenen Assoziationen, leiten die Interpretation in eine bestimmte Richtung.
vgl. Abschnitt Kontextualisierung

Wie im Abschnitt Kontextualisierungshinweise ausgeführt, unterscheidet z.B. Auer (1992: 31f.) aufgrund dieser Dualität rein "oppositive contextualization cues" von solchen mit einem "inherent... meaning potential". Betrachten wir die drei Fragezeichen als Kontextualisierungshinweis, dann können wir diese letzte Kategorie, deren Rahmungspotenzial als "Ich möchte auf mich und meinen Beitrag aufmerksam machen" umschrieben werden kann, als Vertreter der ersten Ebene ansehen. Die zuvor genannten vier Klassen dagegen befinden sich auf der zweiten Ebene – dort wird die Inferenz der Rezipienten in eine bestimmte Richtung gelenkt.
Diese Beobachtungen beantworten allerdings noch nicht die oben gestellte Frage nach dem Grund für die niedrige Reaktionsrate, die Fragen mit mehr als einem Fragezeichen durchschnittlich zuteil wird. Um uns diesem Thema anzunähern, betrachten wir die Aktivitätstypen, in denen sie besonders häufig auftreten:

Aktivitäten mit hohem Anteil von Fragen mit drei Fragezeichen

Bei genauerer Untersuchung der Daten erweist sich, dass es besonders zwei Aktivitätstypen sind, in denen Fragen mit drei Fragezeichen in besonders hoher Frequenz auftreten. Es sind dies

  1. Tröst-Sequenzen
  2. Frotzelaktivitäten bzw. Pretend Play

1) Tröst-Sequenzen

In der Vorgeschichte zu Datum (20) beantwortet eine Teilnehmerin die rituelle Frage nach ihrem Befinden mit beschisen danke [sic], was ihren Gesprächspartner zu folgenden Äußerungen veranlasst:

(20) NickName: was???
NickName: so schlimm???
NickName: hmm, hilft ein *tröst-bussi*???

Eine andere Nutzerin betritt den Kanal mit dem Zusatz sad an ihrem üblichen Pseudonym :

(21) NickName1: ??????
NickName1: NICK2III
NickName1: warum sad

Etwas später kommt es zu einem weiteren Versuch, die deprimierte Nutzerin zu trösten:

(22) NickName1: hmm
NickName1: will nick2i mit wem darüber reden??
NickName1: oder lieber alleine verdauen????

Und auch ein weiterer Benutzer, der sein Pseudonym erst mit dem Zusatz [VeRyVeRySad] und etwas später mit [VoLlTrAuRiG] versieht, wird von einer anderen Teilnehmerin in einer mit drei Fragezeichen versehenen Frage nach dem Grund für seine Traurigkeit befragt :

(23) nagööö wos isn los nicky???

2) Frotzelaktivitäten bzw. Pretend Play

Besonders häufig treten die drei Fragezeichen in spielerischen Frotzel- bzw. Pretend-Play-Aktivitäten auf. Beispiele hierfür sind die Daten (9) und (12) sowie (24) bis (29).

(24) NickName: des woars???
NickName: und wem interessiert des??

(25) wo musst denn hin, zu mir?? *gg*

(26) mützen schon wieder alle??????

(27) also nick, was macherst du mit mein merc.???

(28) und hast an geilen lederstring auch, nicki????

(29) is a apferl auch im mund vielleicht a grünes????

Die Fragen in Datum (24) sind frotzelnde Reaktionen auf ein Script eines anderen Teilnehmers, das nach Meinung des Produzenten nicht sonderlich interessant ist. (25) stammt aus einer komplexen Flirt-/Pretend-Play-Sequenz, in der virtuos mit den verschiedenen ineinander verschachtelten Rahmen der Chat-Interaktion gespielt wird. Mit (26) beklagt sich ein Teilnehmer über die seiner Ansicht nach mangelnde Aktivität im Channel. Beispiel (27) stammt aus einer Frotzelaktivität, die den Mercedes einer Teilnehmerin mit der Autolosigkeit einer anderen Nutzerin (angeblich die Tochter der Mercedesbesitzerin) kontrastiert – die Antwort auf die Frage in (27) lautet auch in einer gelungenen Inszenierung von Neid kaputt fahrn *ggg*. (28) wird geäußert, als ein Nutzer behauptet, er würde am Abend beim Chattertreffen einen Striptease vorführen, und (29) bezieht sich auf das Pseudonym eines Teilnehmers, das bei den anderen Interaktanten Assoziationen an ein Spanferkel weckt – woraufhin ein Szenario entworfen wird, in dem der Betreffende als Braten auf dem Teller landet.

In all diesen Aktivitäten, die im Übrigen vielleicht nicht zufällig alle höchst face-relevant sind, tragen die drei Fragezeichen offensichtlich etwas zur Rahmung der Aktivität bei. Wie aber erklärt sich nun die niedrige Reaktionsrate? Im Folgenden sollen einige mögliche Erklärungen angeboten werden.

  • Fragen, die mit mehreren Fragezeichen versehen sind, treten häufig gehäuft bzw. in Gemeinschaft mit anderen Fragetypen auf (z.B. in (18), (22) und (24)). Wird der ganze Komplex beantwortet (und nicht jede Frage einzeln), so bleiben einige dieser Fragen technisch gesehen unbeantwortet.
     
  • In Frotzel- oder Pretend-Play-Aktivitäten, die, wie wir gesehen haben, eine besonders hohe Dichte an mehrfachen Fragezeichen haben, dienen Fragen häufig dazu, die Aktivität weiterzutreiben. Je nachdem, wie bzw. ob sie beantwortet werden, entscheidet sich der Verlauf des Spiels. Sie bilden sozusagen einen Scheideweg, ob das durch die Frage aufgebrachte neue Thema tatsächlich weiterverfolgt werden soll. Im Gegensatz zu nicht spielerisch gerahmten Aktivitäten erlauben es solche Sequenzen aber anscheinend, die Frage nicht zu beantworten – z.B. dann, wenn die Situation für den Empfänger zu face-bedrohlich wird. Bei solchen Fragen ist beim Empfänger keine Antwortpflicht einklagbar, er kann sie also ohne Sanktionen befürchten zu müssen ignorieren. Das bedeutet, dass der Spielzug des Produzenten nicht ratifiziert wurde. In solchen Fällen wird die Frage kaum jemals wiederholt.
     
  • Eine weitere mögliche Erklärung ergibt sich aus Beispielen wie den Daten (6) (pfaaa schaut irgendwer super-g?? der maier is wieder a waunsinn) und (33):

(33) pamela?????????? na besser nicht

Zu Datum (33) kommt es, als ein Teilnehmer erwähnt, er sei zu einem Kostümfest eingeladen, könne sich aber für keine Verkleidung entscheiden. Mehreren scherzhaften Anregungen folgt der ebenfalls nicht ganz ernst gemeinte Vorschlag, doch als Pamela Anderson zu erscheinen, was der Initiator der Sequenz mit der in (33) reproduzierten Äußerung ablehnt. Die mit mehrfachen Fragezeichen versehenen Phrasen in (6) und (33) haben beide klar rhetorischen Charakter. Sie dienen hier nicht der Erkenntnisfindung, sondern der Einführung eines neuen Themas (6) bzw. der Herstellung von Kohärenz (33). Diese Art von Frage erfordert keine Reaktion.

  • In einigen wenigen Fällen kommt es dazu, dass eine Frage, die tatsächlich eine Reaktion erfordert hätte, aus irgendwelchen Gründen und möglicherweise absichtlich ignoriert wird. Will der/ die Fragende eine Reaktion erzwingen, kann er/ sie die Strategie anwenden, dieselbe Frage oder eine Paraphrase mehrmals nochmals zu äußern, wobei die zunehmende Emphase durch die Verwendung von einer steigenden Anzahl von Fragezeichen signalisiert wird. Ist der Rezipient entschlossen, die Frage zu ignorieren, beantwortet er auch diese wiederholten Fragen nicht und senkt damit die durchschnittliche Reaktionsrate. Ein gutes Beispiel ist folgende Sequenz, die auch ein interessantes Licht auf den Status von Emoticons werfen könnte :

(34) NickName1: =)
NickName2: ???
...
NickName1: =)
NickName2: was bedeutet eigentlich =)
...
NickName2: was bedeutet eigentlich: =) ???
...
NickName1: =)
NickName2: was bedeutet
NickName2: =) ???
...
NickName1: =)
NickName2: nick1, was bedeutet das zeichen =) ???
NickName1: smile
NickName2: ich dachte das geht so :-)

In diesem Ausschnitt ist sich eine neue Teilnehmerin nicht über die Bedeutung der Zeichenkombination =) im Klaren. Aus unklaren Gründen muss sie ihre Frage nicht weniger als fünfmal stellen – jedes Mal expliziter und die letzten drei Male mit je drei Fragezeichen versehen – bevor sie eine Antwort erhält. Erst als sie einen der Interaktanten direkt mit seinem Nickname anspricht, erhält sie die gewünschte Information. Auch solche Sequenzen drücken natürlich die durchschnittliche Reaktionsrate bei Fragen mit drei Fragezeichen.

  • Eine weitere mögliche Erklärung ist, dass ein übertriebener Einsatz von mehreren Fragezeichen als aufdringlich empfunden (etwa analog zum von der Netiquette nicht goutierten durchgängigen Schreiben in Großbuchstaben) und aus diesem Grund seltener beantwortet wird.

Fragezeichen in Begrüßungssequenzen

Begrüßungssequenzen stellen in den vorliegenden Daten einen großen Anteil an mit Fragezeichen markierten Äußerungen. Es fragt sich nun, ob der Gebrauch von Fragezeichen hier dem anderswo praktizierten entspricht oder ob er davon abweicht. Wie im entsprechenden Abschnitt ausgeführt, besteht eine prototypische Grußsequenz aus den folgenden sechs Zügen:

1 A: Gruß
2 B: Gegengruß
3 A: Frage nach dem Befinden
4 B: Antwort
5 B: Gegenfrage
6 A: Antwort

Mit Fragezeichen versehen sein können die Züge 3 und 5. In vier Protokollen wurde die Art der Zeichensetzung ermittelt, die in diesen Zügen zur Anwendung kommt. Für Zug drei ergibt sich in Relation zum Gesamtschnitt folgende Verteilung:

  ? ??? - Gesamtanzahl
Zug drei 38% (11) 7% (2) 55% (16) 100% (29)
Gesamtschnitt 54% (342) 16% (103) 30% (185) 100% (630)
Tabelle 3: Fragezeichentyp in Grußsequenzen

Im Vergleich zum Gesamtschnitt wird in Begrüßungssequenzen also durchschnittlich

  • seltener ? verwendet
  • seltener ??? verwendet
  • öfter kein Satzzeichen verwendet.

Die wahrscheinlichste Erklärung dieser abweichenden Verteilung könnte im durchwegs phatischen Charakter der Aktivität 'Begrüßung eines Neuankömmlings' liegen. Sollte das Fragezeichen tatsächlich den Wunsch nach Reaktion signalisieren, dann passt es ins Bild, die weit höhere Rate von nicht mit einem Fragezeichen versehenen Fragen mit der Unverbindlichkeit dieser Art der Kommunikation zu erklären. Einerseits liegt derartige ritualisierte Erkundigungen nach dem Befinden kaum ein ernsthaftes Erkenntnisinteresse zugrunde (siehe oben). Andererseits könnte auch eine weitere Spekulation zutreffen: statt dem Gesprächspartner zu signalisieren, dass man ein besonderes Interesse an seinem Befinden hätte (was in die Kategorie der positive politeness fiele), vermittelt man, dass er keineswegs zu antworten verpflichtet ist und respektiert damit (im Sinne der negative politeness) seinen Freiraum.

Auch die relative Seltenheit der mehrfach gesetzten Fragezeichen lässt sich damit erklären – keine der oben aufgeführten Verwendungsweisen passt in phatische Kommunikation. Wie erwähnt, kann die inhärente Grundbedeutung der drei Fragezeichen als Emphase betrachtet werden – es sind aber nur wenig Kontexte denkbar, in denen es sinnvoll erscheint, sich besonders emphatisch nach dem Befinden des Gesprächspartners zu erkundigen. Allenfalls könnte man drei Fragezeichen in einer solchen Aktivität als Signal für echtes Interesse ansehen (im Gegensatz zur konventionellen Frage als Teil des Rituals). Die Zeichenkombination ??? kann also, typisch für Kontextualisierungshinweise, je nach Aktivität verschiedene Inferenzen hervorrufen.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann