Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Was ist IRC?

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Internet Relay Chat

Von all den neuen Kommunikationsformen, die das Internet ermöglicht, ist IRC – Internet Relay Chat – vielleicht die interessanteste. Der finnische Informatiker Jarkko Oikarinen entwickelte 1988 ein Programm, durch das sich erstmals mehr als zwei Personen per Computerterminal synchron und gleichzeitig miteinander unterhalten konnten. Zunächst nur für eine Handvoll User an der Universität von Oulo konzipiert, verbreitete sich das System rasch an den verschiedensten Universitäten und Institutionen; 1990 gab es bereits 117 Server, 1994 erreichte der IRC-Server der University of Colorado allein bereits 1000 gleichzeitig eingeloggte Benutzer, und seit Mai 2002 übertrifft die Anzahl der gleichzeitig mit den Servern des gesamten IRC-Networks verbundenen User zu Spitzenzeiten 120.000 (vgl. Oikarinen 1993 , Tjenström 2002 ).

Andere Chatsysteme

IRC ist "die "Grande Dame" des Netz-Chats" (Hellmers o.J.: "IRC" ), aber nicht das einzige System von synchroner computervermittelter Kommunikation. Mit dem Siegeszug des World Wide Web kamen so genannte Webchats auf, Systeme, die sich hinsichtlich der Funktionalität an IRC orientieren, aber keine Installation eines Clients erfordern (siehe unten), sondern in Webseiten integriert sind und damit vom Webbrowser des Nutzers geöffnet werden können. Mit einer meist grafischen Benutzeroberfläche und verschiedenen Zusatzfunktionen wie Spielen, der Möglichkeit zum Schützen seines Pseudonyms oder dem Anlegen einer so genannten Visitenkarte – einer Datei mit persönlichen Informationen –, sind Webchats anfängerfreundlicher als IRC, was allerdings von Puristen nicht ausschließlich als Vorteil empfunden wird:

Die Webchats sind wirklich das einfachste von allem: Einfach www.sowieso.de eingeben, und schon geht's ab. Keine Software, kein großes Hintergrundwissen oder besondere Rafinesse [sic] werden benötigt. Der Preis der Einfachheit: Die sogenannten Webchats verfügen natürlich nicht über die Funktionen, die andere Chatsysteme wie IRC besitzen - denn die WWW-Browser wurden nun einmal nicht zum Chatten erfunden.
Hellmers (o.J.): "Webchat"

Außerdem vermissen Freunde des IRC-Systems in Webchats eine Reihe von Zusatzfunktionen wie die folgenden:

Ein weiterer Vorteil des IRC: Man kann in so vielen Channels gleichzeitig sein, wie man mag. Ausserdem kann man gleichzeitig so viele private Dialoge mit anderen Chattern führen, wie man will - das hat IRC den allermeisten webbasierten Chats voraus. Andere positive "Kleinigkeiten", die IRC zum Chatvergnügen machen: Man kann simultan zum Chat Dateien mit dem DCC-Protokoll an andere versenden, man kann die Chats in eine Textdatei aufzeichnen lassen und mehr.
Hellmers (o.J.): "IRC" [Hervorhebung im Original]

"Nicht ganz ein Chat, aber doch etwas einigermaßen Ähnliches" (Hellmers o.J.: "ICQ/AIM" ) sind Instant Messaging-Dienste wie ICQ ("I seek you", der Klassiker), das AOL-Produkt AIM oder Microsofts MSN-Messenger. Zur Nutzung dieser Dienste benötigen Anwender eine Software, die, sobald man sich eingeloggt hat, über einen eigenen Server abfragt, ob vorher als solche identifizierte "Buddies" des Nutzers – Freunde, die das gleiche Messenger-Programm verwenden – ebenfalls online und kontaktbereit sind. Ist das der Fall, kann wie in IRC eine synchrone textbasierte Interaktion aufgenommen werden. Allerdings unterscheiden sich die beiden Systeme in einem wesentlichen Punkt: während bei IRC (und auch in Webchats) die getippten Beiträge der Benutzer erst dann auf dem Bildschirm der anderen Teilnehmer sichtbar werden, wenn sie per Eingabetaste 'abgeschickt' wurden, so ist es bei Instant Messaging möglich, jedes getippte Zeichen so gut wie sofort auch beim Gesprächspartner erscheinen zu lassen. Im Gegensatz zu IRC sind also die Aktivitäten des Gesprächspartners für die Interaktanten ersichtlich, wodurch "jeder Fehler und jede Korrektur am Text von Ihrem Gesprächspartner mitverfolgt werden kann" – eine Tatsache, die einerseits Filinski (1998: 158) zu der eindringlichen Warnung bewegt: "Überlegen Sie also genau, was und wie Sie etwas zum Ausdruck bringen", andererseits wesentlichen Einfluss auf die Turntaking-Konventionen hat.

Wichtige Konzepte

Um an einem Chat über IRC teilzunehmen, wird außer einem Computer mit Internetanschluss lediglich eine bestimmte Software, ein so genannter Chat-Client, benötigt, durch die eine Verbindung zu einem beliebigen Chat-Server hergestellt und nach Wahl eines Pseudonyms oder Nicknames – etwa Speedy, Woodstock oder XxX-_InSaNe_-XxX – losgeplaudert werden kann. Zu diesem Zweck betritt man einen oder mehrere Channels oder Räume, deren es auf einem Server Hunderte geben kann; ihre Namen – z.B. #friends oder #Espresso_Claudia – lassen Schlüsse auf Gesprächsthemen bzw. die generelle Atmosphäre im Raum zu. Manche Channels bieten zusätzlich Informationen zu den in ihnen hauptsächlich behandelten Themen; möglich ist alles von Everybody welcome bis America must be destroyed!.

Jeder User kann einen Channel eröffnen, wodurch er/sie dann automatisch Operator-Status verliehen bekommt. Operators (auch op, chanop, in manchen Programmen Host bzw. Gastgeber) besitzen spezielle Privilegien in 'ihrem' Channel, es ist ihnen etwa möglich, störende Teilnehmer aus dem Raum zu kicken oder sie gar zu bannen, i.e. ihnen das erneute Betreten des Channels nach einem Kick endgültig zu verwehren. Ebenso sind sie dazu imstande, andere User zu 'oppen', d.h. ihnen ebenfalls Operator-Status zu verleihen.
Ein häufiges Phänomen sind auch sogenannte Bots – dem Jargon File (v.4.3.3) zufolge ist ein Bot ein "user who is actually a program" (Raymond 2002: "bot" ). Bots können etwa dazu programmiert werden, User bei bestimmten unerwünschten Verhaltensweisen automatisch zu kicken (gibt jemand z.B. unbeabsichtigt oder mit voller Absicht – im Zuge eines bösartigen Floodings – zu große Textmengen zu schnell ein, stört das die Kommunikation, da andere Gesprächsbeiträge dadurch vom Bildschirm gedrängt und somit für andere Teilnehmer unlesbar werden). Oft dienen sie auch dazu, leere Chatrooms durch Simulation eines darin befindlichen Benutzers 'offen' zu halten, da Channels normalerweise nach Ausstieg des letzten Users automatisch gelöscht werden.

IRC wurde geschrieben, um 'Gespräche' zwischen mehr als zwei Teilnehmern zu ermöglichen. Es gibt allerdings auch die Möglichkeit, anderen private Botschaften zu senden, die dann für den Rest der Teilnehmer unsichtbar bleiben – einen Dialog zu führen bzw. zu flüstern; betritt man einen Raum, in dem trotz einer größeren Anzahl an Usern (deren Nicknames üblicherweise in einer Liste am Rand des Bildschirms angezeigt werden) kaum Kommunikation stattzufinden scheint, ist die wahrscheinlichste Erklärung die, dass die meisten in für andere verborgene Privatgespräche verwickelt sind. Auch im Kontext absolut nicht nachvollziehbare Äußerungen beziehen sich häufig auf zuvor 'Geflüstertes'; mitunter können gar für den Beobachter einseitige Gespräche auftreten, nämlich dann, wenn ein Teilnehmer seine/ihre Gesprächsbeiträge 'flüstert' und der/die andere es aus welchen Gründen auch immer vorzieht, im öffentlichen Raum zu kommunizieren.

Eine weitere interessante Funktion ist die Möglichkeit, 'Handlungen' darzustellen, i.e. statt des üblichen Dialogformats

(1) a. Nickname sagt: ich hör grad musik

bzw. – je nach verwendetem Programm –

b. <Nickname> ich hör grad musik

einen Satz mit dem eigenen Nickname an erster Stelle generieren zu lassen, also etwa

c. Nickname hört grad musik

Die Funktionen solcher alternativen Formulierungsweisen werden im Abschnitt Inflektive und Zuschreibungsturns behandelt.

Hin und wieder begegnet man auch wortreichen 'Handlungen' wie der folgenden:

(2) NickName walks over to Kiara, gently takes her in his arms and plants a monitor-fritzin, keyboard-stickin, ram-overheatin, hard-drive-crashin, modem-frying, 'puter-meltin-in-a-lil-plastic-puddle smoocheroo on her gorgeous face!

Der betreffende Nutzer hätte Datum (2) durch händische Eingabe niemals in der vom Chat erforderten Geschwindigkeit produzieren können. Tatsächlich handelt es sich um einen von einem eigens für derartige Zwecke geschriebenen Computerprogramm, einem sogenannten Script, produzierten, vorgefertigten Textblock, der vom Benutzer durch kurze Tastaturkommandos abgerufen werden kann. Die von Scripts generierten Texte befinden sich häufig auf der Ebene des Pretend Play.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann