Internet Relay Chat
Von all den neuen Kommunikationsformen, die das Internet ermöglicht, ist IRC
– Internet Relay Chat – vielleicht die interessanteste. Der finnische
Informatiker Jarkko Oikarinen entwickelte 1988 ein Programm, durch das sich
erstmals mehr als zwei Personen per Computerterminal synchron und gleichzeitig
miteinander unterhalten konnten. Zunächst nur für eine Handvoll User an der
Universität von Oulo konzipiert, verbreitete sich das System rasch an den
verschiedensten Universitäten und Institutionen; 1990 gab es bereits 117 Server,
1994 erreichte der IRC-Server der University of Colorado allein bereits 1000
gleichzeitig eingeloggte Benutzer, und seit Mai 2002
übertrifft die
Anzahl der gleichzeitig mit den Servern des gesamten IRC-Networks verbundenen
User zu Spitzenzeiten 120.000 (vgl. Oikarinen 1993
, Tjenström 2002
).
Andere Chatsysteme
IRC ist "die "Grande Dame" des Netz-Chats" (Hellmers o.J.: "IRC"
), aber nicht
das einzige System von synchroner computervermittelter Kommunikation. Mit dem
Siegeszug des World Wide Web kamen so genannte Webchats auf, Systeme, die sich
hinsichtlich der Funktionalität an IRC orientieren, aber keine Installation
eines Clients erfordern (siehe unten), sondern in Webseiten integriert sind und
damit vom Webbrowser des Nutzers geöffnet werden können. Mit einer meist
grafischen Benutzeroberfläche und verschiedenen Zusatzfunktionen wie Spielen,
der Möglichkeit zum Schützen seines Pseudonyms oder dem Anlegen einer so
genannten Visitenkarte – einer Datei mit persönlichen Informationen –, sind
Webchats anfängerfreundlicher als IRC, was allerdings von Puristen nicht
ausschließlich als Vorteil empfunden wird:
Die Webchats sind wirklich das einfachste von allem:
Einfach www.sowieso.de eingeben, und schon geht's ab. Keine Software, kein
großes Hintergrundwissen oder besondere Rafinesse [sic] werden benötigt. Der
Preis der Einfachheit: Die sogenannten Webchats verfügen natürlich nicht über
die Funktionen, die andere Chatsysteme wie IRC besitzen - denn die WWW-Browser
wurden nun einmal nicht zum Chatten erfunden.
Hellmers (o.J.): "Webchat"

Außerdem vermissen Freunde des IRC-Systems in Webchats eine Reihe von
Zusatzfunktionen wie die folgenden:
Ein weiterer Vorteil des IRC: Man kann in so vielen
Channels gleichzeitig sein, wie man mag. Ausserdem kann man gleichzeitig so
viele private Dialoge
mit anderen
Chattern führen, wie man will - das hat IRC den allermeisten webbasierten Chats
voraus. Andere positive "Kleinigkeiten", die IRC zum Chatvergnügen machen: Man
kann simultan zum Chat Dateien mit dem DCC-Protokoll an andere versenden, man
kann die Chats in eine Textdatei aufzeichnen lassen und mehr.
Hellmers (o.J.): "IRC" [Hervorhebung im Original]

"Nicht ganz ein Chat, aber doch etwas einigermaßen Ähnliches" (Hellmers o.J.:
"ICQ/AIM"
) sind Instant
Messaging-Dienste wie ICQ ("I seek you", der Klassiker), das AOL-Produkt AIM
oder Microsofts MSN-Messenger. Zur Nutzung dieser Dienste benötigen Anwender
eine Software, die, sobald man sich eingeloggt hat, über einen eigenen Server
abfragt, ob vorher als solche identifizierte "Buddies" des Nutzers – Freunde,
die das gleiche Messenger-Programm verwenden – ebenfalls online und
kontaktbereit sind. Ist das der Fall, kann wie in IRC eine synchrone
textbasierte Interaktion aufgenommen werden. Allerdings unterscheiden sich die
beiden Systeme in einem wesentlichen Punkt: während bei IRC (und auch in
Webchats) die getippten Beiträge der Benutzer erst dann auf dem Bildschirm der
anderen Teilnehmer sichtbar werden, wenn sie per Eingabetaste 'abgeschickt'
wurden, so ist es bei Instant Messaging möglich, jedes getippte Zeichen so gut
wie sofort auch beim Gesprächspartner erscheinen zu lassen. Im Gegensatz zu IRC
sind also die Aktivitäten des Gesprächspartners für die Interaktanten
ersichtlich, wodurch "jeder Fehler und jede Korrektur am Text von Ihrem
Gesprächspartner mitverfolgt werden kann" – eine Tatsache, die einerseits
Filinski (1998: 158)
zu der
eindringlichen Warnung bewegt: "Überlegen Sie also genau, was und wie Sie etwas
zum Ausdruck bringen", andererseits wesentlichen Einfluss auf die
Turntaking-Konventionen hat.
Wichtige Konzepte

Um an einem Chat über IRC teilzunehmen, wird außer einem Computer mit
Internetanschluss lediglich eine bestimmte Software, ein so genannter
Chat-Client, benötigt, durch die eine Verbindung zu einem beliebigen Chat-Server
hergestellt und nach Wahl eines Pseudonyms oder Nicknames – etwa Speedy,
Woodstock oder XxX-_InSaNe_-XxX – losgeplaudert werden kann. Zu
diesem Zweck betritt man einen oder mehrere Channels oder Räume, deren es auf
einem Server Hunderte geben kann; ihre Namen – z.B. #friends oder
#Espresso_Claudia – lassen Schlüsse auf Gesprächsthemen bzw. die generelle
Atmosphäre im Raum zu. Manche Channels bieten zusätzlich Informationen zu den in
ihnen hauptsächlich behandelten Themen; möglich ist alles von Everybody
welcome bis America must be destroyed!.
Jeder User kann einen Channel eröffnen, wodurch er/sie dann automatisch
Operator-Status verliehen bekommt. Operators (auch op, chanop, in
manchen Programmen Host bzw. Gastgeber) besitzen spezielle Privilegien in
'ihrem' Channel, es ist ihnen etwa möglich, störende Teilnehmer aus dem Raum zu
kicken oder sie gar zu bannen, i.e. ihnen das erneute Betreten des Channels nach
einem Kick endgültig zu verwehren. Ebenso sind sie dazu imstande, andere User zu
'oppen', d.h. ihnen ebenfalls Operator-Status zu verleihen.
Ein häufiges Phänomen sind auch sogenannte Bots – dem Jargon File
(v.4.3.3) zufolge ist ein Bot ein "user who is actually a program" (Raymond
2002: "bot"
). Bots können
etwa dazu programmiert werden, User bei bestimmten unerwünschten
Verhaltensweisen automatisch zu kicken (gibt jemand z.B. unbeabsichtigt oder mit
voller Absicht – im Zuge eines bösartigen Floodings – zu große Textmengen
zu schnell ein, stört das die Kommunikation, da andere Gesprächsbeiträge dadurch
vom Bildschirm gedrängt und somit für andere Teilnehmer unlesbar werden). Oft
dienen sie auch dazu, leere Chatrooms durch Simulation eines darin befindlichen
Benutzers 'offen' zu halten, da Channels normalerweise nach Ausstieg des letzten
Users automatisch gelöscht werden.
IRC wurde geschrieben, um 'Gespräche' zwischen mehr als zwei Teilnehmern zu
ermöglichen. Es gibt allerdings auch die Möglichkeit, anderen private
Botschaften zu senden, die dann für den Rest der Teilnehmer unsichtbar bleiben –
einen Dialog zu führen bzw. zu flüstern; betritt man einen Raum, in dem trotz
einer größeren Anzahl an Usern (deren Nicknames üblicherweise in einer Liste am
Rand des Bildschirms angezeigt werden) kaum Kommunikation stattzufinden scheint,
ist die wahrscheinlichste Erklärung die, dass die meisten in für andere
verborgene Privatgespräche verwickelt sind. Auch im Kontext absolut nicht
nachvollziehbare Äußerungen beziehen sich häufig auf zuvor 'Geflüstertes';
mitunter können gar für den Beobachter einseitige Gespräche auftreten, nämlich
dann, wenn ein Teilnehmer seine/ihre Gesprächsbeiträge 'flüstert' und der/die
andere es aus welchen Gründen auch immer vorzieht, im öffentlichen Raum zu
kommunizieren.
Eine weitere interessante Funktion ist die Möglichkeit, 'Handlungen'
darzustellen, i.e. statt des üblichen Dialogformats
(1) a. Nickname sagt: ich hör grad musik
bzw. – je nach verwendetem Programm –
b. <Nickname> ich hör grad musik
einen Satz mit dem eigenen Nickname an erster Stelle generieren zu lassen,
also etwa
c. Nickname hört grad musik
Die Funktionen solcher alternativen Formulierungsweisen werden im Abschnitt
Inflektive und
Zuschreibungsturns behandelt.
Hin und wieder begegnet man auch wortreichen 'Handlungen' wie der folgenden:
(2) NickName walks over to Kiara, gently takes her in his arms
and plants a monitor-fritzin, keyboard-stickin, ram-overheatin,
hard-drive-crashin, modem-frying, 'puter-meltin-in-a-lil-plastic-puddle
smoocheroo on her gorgeous face!

Der betreffende Nutzer hätte Datum (2) durch händische Eingabe niemals in der
vom Chat erforderten Geschwindigkeit produzieren können. Tatsächlich handelt es
sich um einen von einem eigens für derartige Zwecke geschriebenen
Computerprogramm, einem sogenannten Script, produzierten, vorgefertigten
Textblock, der vom Benutzer durch kurze Tastaturkommandos abgerufen werden kann.
Die von Scripts generierten Texte befinden sich häufig auf der Ebene des Pretend
Play.
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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