Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
Nicknames |
Weil die Anonymität eines der auffälligsten Kennzeichen der
IRC-Kommunikation
ist und vielleicht auch, weil sie die Kreativität und Originalität vieler
Chat-Nutzer besonders deutlich werden lassen, gehören die Pseudonyme zu jenen
Aspekten der Chat-Interaktion, die in besonders vielen Arbeiten zur
computervermittelten Kommunikation angesprochen werden. Eine der ersten und
wegweisenden Arbeiten zum Thema Nicknames in IRC ist Bechar-Israeli (1995)
Der zweite entscheidende Punkt ist, dass in Ermangelung physischer
Informationen das Pseudonym entscheidend für den Eindruck ist, den andere Nutzer
von seinem Träger erhalten. So haben Dabiri & Helten (1998)
sich ChatterInnen zunächst ihre/n GesprächspartnerIn aufgrund des Nicknames
aussuchen. Löst ein Nickname bestimmte Assoziationen, Erwartungen oder
Vorstellungen aus oder kann eine Identifizierung mit dem Image vollzogen werden,
so wird der Wunsch verspürt, sich mit derjenigen Person auseinander zu setzen. Und Bays (1998: section 4)
all manner of sociological cues can be surmised from the information packed into the nickname - eine Beobachtung, die bis zu einem gewissen Grad auch auf die Pseudonyme in
den vorliegenden Daten zutrifft: so ist asterix-1 vermutlich ein Comicleser,
Jupiter hat anscheinend zumindest rudimentäre Kenntnisse der römischen
Mythologie, und mini ruft andere Assoziationen hervor als Mas-Ter. Die
"sociological cues" sind allerdings wenig verlässlich – ob es etwa wirklich
möglich ist, aus einem Nickname wie Metus zu schließen, dass der Träger der
lateinischen Sprache mächtig ist und sich als Furcht einflößend präsentieren
will, sei dahingestellt (zumal dieselbe Person mitunter auch das Pseudonym
URVIECH benützt). Dass die durch den Nickname hervorgerufenen Assoziationen
großes Rahmungspotenzial haben, steht allerdings außer Zweifel. Eine
detaillierte Untersuchung dieses Themas liegt außerhalb des Skopus der
vorliegenden Arbeit; es sei daher nochmals auf Bechar-Israeli (1995)
Kontextualisierungsstrategien durch NicknamesPseudonyme können jedoch auch ungeachtet ihrer konkreten Realisierung in
Kontextualisierungsstrategien eine Rolle spielen. So führt etwa Jacobson (1996)
Wahl von Nickname/ richtigem Namen als KontextualisierungsstrategieIn IRC-Kanälen ist es beinahe ausschließlich Usus, dass die Teilnehmer
einander mit ihren Nicknames ansprechen. Wird stattdessen der richtige Name des
Angesprochenen gewählt, so ist dies eine Abweichung von der Norm und löst
dadurch bei den anderen Interaktanten eine Inferenz aus; es handelt sich also um
einen Kontextualisierungshinweis. Die Richtung, in die diese Inferenz geht, wird
durch die Assoziationen geleitet, die den Kontextualisierungshinweis begleiten –
im Fall "Anrede eines Teilnehmers mit seinem richtigen Namen" werden diese
bedingt durch die Umstände, die eintreten müssen, damit ein Chatter den
richtigen Namen eines anderen Teilnehmers überhaupt kennt: das trifft
normalerweise nur dann zu, wenn die beiden einander schon so gut kennen, dass
ein gewisses Vertrauensverhältnis entstehen konnte, oft erst dann, wenn sich die
Chatter auch im 'Real Life', also außerhalb des Chatrooms, 'live' und 'in
Wirklichkeit' kennen gelernt haben. Entsprechend identifiziert Jacobson (1996:
469)
[I]f pseudonyms convey the message "This is not real”, the use of real names convey the message "This is real.” Im folgenden Ausschnitt aus dem untersuchten Datenmaterial betritt NickName1 den Chatroom und wird von NickName2 und NickName3 begrüßt – und zwar, im Gegensatz zu den üblichen Konventionen, nicht mit seinem Pseudonym, sondern anhand seiner Real Life-Identität als Bruder eines anscheinend in der Chatgemeinschaft bekannteren anderen Teilnehmers: (1) NickName1: sers NickName2 NickName2 und NickName3 scheinen betonen zu wollen, dass sie die Real Life-Identität von NickName1 kennen: der Bruder des Hinzugekommenen wird von beiden Grüßenden unabhängig voneinander anhand seines Vornamens (A) genannt (ein Zusammentreffen, das in den folgenden Zeilen für Heiterkeit sorgt). NickName3 spricht auch NickName1 selbst mit seinem Vornamen (B) an. Es darf angenommen werden, dass hier der Gebrauch des richtigen Namens (in Verbindung mit der Identifikation des Teilnehmers anhand eines tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisses) das geteilte Hintergrundwissen der Interaktanten kontextualisiert und so auf ihre auch offline bestehende Beziehung verwiesen wird. Damit erfüllt dieser Kontextualisierungshinweis beide von Jacobson angeführten Funktionen: er verweist auf eine Beziehung zwischen den Interaktanten und charakterisiert diese Beziehung als in der realen Welt beheimatet. Umgekehrt besitzt in einem Rahmen, zu dem die Verwendung echter Namen gehört, selbstverständlich auch der gegensätzliche Fall Signifikanz. Jacobson zitiert eine Informantin, die angibt, dass sie ihr MOO-Pseudonym gelegentlich auch in E-Mails an Freunde verwendet (die ja üblicherweise mit dem Vornamen signiert werden): I use my alternate name to say "this is the authentic part of me speaking" as
opposed to perhaps a merely official part of me, just doing business. Der Autor (ibid.) kommt zu dem Schluss: The offline use of online names reverses the pattern but reveals the same social and psychological processes. Ähnlich wie die Wahl eines Anredepronomens kann also auch die Wahl des Namens, mit dem ein Teilnehmer einen anderen anspricht, als Kontextualisierungshinweis angesehen werden. Anrede mit Nickname als Kontextualisierungshinweis für DringlichkeitAngesichts der Tatsache, dass in den vorliegenden Daten die in vielen Arbeiten als typisches Kennzeichen der Chat-Kommunikation angeführte 'Adressierungskonvention' (das Kennzeichen von Gesprächsbeiträgen mit dem Pseudonym des Adressaten) als Turn-Taking-Mechanismus nur eine geringe Rolle spielt, darf angenommen werden, dass in Fällen, in denen ein Teilnehmer tatsächlich explizit mit seinem Pseudonym angesprochen wird, strategisch vorgegangen wird. Der Einsatz des Nicknames lässt dem Sprechakt mehr Aufmerksamkeit zukommen und stellt ihn damit als wichtiger und/ oder dringlicher als die umgebenden Äußerungen dar. Solcherart hervorgehobene Sprechakte müssten folgerichtig eher eine Reaktion erhalten als unmarkierte, eine Vermutung, die anhand einer informellen Zählung tendenziell bestätigt werden konnte. In vier Chatprotokollen wurde die Reaktionsrate auf Sprechakte, die im weitesten Sinn als 'Fragen' eingestuft werden konnten, ermittelt und jene von unmarkierten Fragen mit der von Fragen, die einen Nickname enthalten, in Beziehung gesetzt. In einem der vier ausgewerteten Protokolle ist die Reaktionsrate nahezu identisch (unmarkierte Fragen haben eine geringfügig höhere Reaktionsrate), in den drei übrigen liegen die Reaktionsraten auf Fragen mit Nickname konsistent um etwa ein Drittel höher als jene von unmarkierten Fragen:
Die genannte Zählung reicht aus, um die Ansicht zu stützen, dass der
Einsatz des Pseudonyms in Fragen als Kontextualisierungshinweis auf
Sprechaktebene anzusehen ist – eine Strategie, die sicherlich auch in
Face-to-Face-Interaktion angewandt wird. Allerdings würde es sich hier um einen
expliziten, lexikalischen Kontextualisierungshinweis handeln, der nach Auers
(1992: 24)
Manipulation von NicknamesEs wurde bereits demonstriert, dass ihre Pseudonyme für die Chat-Teilnehmer
eine große Bedeutung besitzen. Da auch Sprachspiele und der
Performance-Rahmen
im untersuchten Datenmaterial bzw. generell in vielen Formen von
computervermittelter Kommunikation eine wichtige Rolle spielen, nimmt es nicht
wunder, dass wir in Chat-Interaktionen häufig eine Verbindung dieser wichtigen
Elemente finden. So beobachtet etwa Bechar-Israeli (1995)
Diese Grundtypen lassen sich auf zwei Klassen reduzieren:
Manipulation des eigenen NicknamesDie Manipulation des eigenen Pseudonyms ist eine überaus häufig eingesetzte Konvention der im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Chatgemeinschaft. Die bei weitem meist genutzte Funktion ist die Signalisierung des Präsenzstatus des Teilnehmers, doch auch das seelische oder körperliche Befinden des Nutzers kann anhand des Nicknames zum Ausdruck gebracht werden. PräsenzstatusDie Motivation für diese sehr häufige Form der Manipulation des eigenen Nickname liegt in den Umständen der Kommunikationssituation. Gerade sehr involvierte Mitglieder der Chat-Community bleiben häufig stunden-, ja tagelang in ihre/n präferierten Channel/s eingeloggt, um während bzw. zwischen ihren alltäglichen Tätigkeiten – z.B. auch während der Arbeitszeit im Büro – jederzeit das Geschehen im Channel verfolgen zu können. Dennoch gibt es natürlich auch Zeiten, in denen der/die NutzerIn anderen Vorgängen seine/ihre ungeteilte Aufmerksamkeit widmen muss – sei es, weil er/sie zum Einkaufen, Aufräumen oder für grundlegende Körperpflege seinen/ ihren Bildschirm verlassen muss oder weil der/die Vorgesetzte unversehens das Büro betreten hat. Solche Eventualitäten sind den anderen Teilnehmern natürlich nicht ersichtlich, denn der Nickname, in einem Chatroom die einzige Annäherung an eine physische Repräsentation einer Person, wird von der Software weiterhin als eingeloggt geführt. Daher kann es passieren, dass die Person, die man anspricht, zwar nominell 'da', geistig und/ oder körperlich jedoch meilenweit von der Interaktion entfernt ist. Zur Vermeidung solcher Missverständnisse ist die so genannte "/away"-Funktion vorgesehen. Tippt der Nutzer NickName1 beispielsweise das Kommando /away Kaffee holen so erscheint auf den Bildschirmen der anderen Teilnehmer je nach verwendetem Programm eine Formulierung wie NickName1 is away (Kaffee holen) Auch wenn der abwesende Teilnehmer im 'Privatkanal' 'angeflüstert' wird, wird dem 'Flüsternden' automatisch diese Nachricht übermittelt. Ist der Teilnehmer wieder bereit, sich der Interaktion zu widmen, kann er seinen Away-Status durch erneute Eingabe von /away wieder aufheben. Diese Methode hat allerdings einen Nachteil: wer nicht die Absicht hat, zu 'flüstern' und die away-msg (Away-Message) im öffentlichen Raum übersehen oder gar nicht erst zu Gesicht bekommen hat, weil er/ sie vielleicht erst später den Channel betreten hat, ist weiterhin über die Abwesenheit der fraglichen Person im Unklaren.
Aufgrund dieses Umstandes hat sich in den untersuchten Kanälen (möglicherweise
auch in anderen Chat-Gemeinschaften) die Konvention herausgebildet, ein
zeitweiliges Verlassen der Interaktion durch einen Zusatz am eigenen Pseudonym
anzuzeigen. Einige Beispiele
(2) Oliver17_away (3) Angel1_kurz_weg (4) woelfchen_furt (5) aspi_fastda
(6) trinity_geistig_abwesen [sic] So kann jeder anhand der Teilnehmerliste auf einen Blick erkennen, dass die UserInnen mit den Nicknames Oliver17, Angel1, trinity, woelfchen und aspi momentan nicht erreichbar sind und ihre Nichtbeteiligung an der Interaktion dementsprechend nicht in einem sozialen, sondern in einem natürlichen Rahmen zu interpretieren ist. Andere User nutzen diese Präsenzstatus-Signale für spielerische Manipulationen. So integriert etwa speedy das Wort away in sein Pseudonym und wird zu speed[awa]y; der Nickname wasser_han mit den 'Initialen' wh wird zu w[h]eg, und ^X-treme macht anhand einer extremen Wandlung seinem ursprünglichen Pseudonym alle Ehre und mutiert gänzlich zu NichtHier.
Da eine vergleichbare Kommunikationssituation in Face-to-Face-Interaktion nicht
eintreten kann, ist die Funktion dieser Konvention nur beschränkt mit Strategien
der somatischen Kommunikation vergleichbar. In den Fällen aber, wo dies möglich
scheint – z.B. wenn jemand nur geistig abwesen[d] ist wie trinity in Beispiel (6)
– erfüllt sie Funktionen, die in Face-to-Face-Kommunikation durch para- und
nonverbale Hinweise übernommen werden, Hinweise, die ein erhebliches
Kontextualisierungspotenzial besitzen. Auch deshalb soll hier die Ansicht
vertreten werden, dass es sich bei den Präsenzstatus-Signalen um
Kontextualisierungshinweise handelt, und zwar solche, die darauf verweisen, dass
das Verhalten (bzw. Nicht-Verhalten
Neben Formen wie in (2) bis (6) treten häufig auch inhaltsstärkere Formen auf, die die Tätigkeit des Teilnehmers und damit eine Begründung für seine/ ihre Abwesenheit nennen. Das Spektrum möglicher Tätigkeiten ist vielfältig: (7) Cobra_essen (8) Kiara_aufräumen (9) Angel1_hackln (12) neuni_tel [Telefon] (13) Destiny_mehl_schreibn ['Mail'] (14) Bad[Anstoss3]Boy Auf diese Weise detailliertere Angaben zur eigenen Beschäftigung zu machen, erfüllt mehrere Funktionen: sie erklären die mangelnde Teilnahme an der Interaktion und lassen dabei unter Umständen Schlüsse auf die Dauer der Abwesenheit zu. Möglich ist auch die Situation, dass der/die Betreffende zwar immer wieder mitlesen, aber nicht regelmäßig aktiv partizipieren kann (etwa weil er/ sie wie Angel1 in (9) in der Arbeit ist). Außerdem sagt eine solche Veränderung des Pseudonyms auch etwas über dessen TrägerIn aus und rückt diese Praxis damit schon in die Nähe der weiter unten besprochenen Selbstcharakterisierungen. Eine weitere, sehr spezielle Form von Angaben zum Präsenzstatus wird erforderlich, wenn zwei regelmäßige Teilnehmer von einem PC aus chatten – in dieser Situation ist es üblich, wie in (16) und (17) beide Nicknames zu nennen: (16) ANDY_und_Leeloo (17) NET_u_DearDevil Begegnet man einem solchen Pseudonym, darf man annehmen, dass die beiden Genannten gemeinsam oder abwechselnd an der Tastatur sitzen – sollte es also zu Missverständnissen kommen, so darf man davon ausgehen, dass sie darauf zurückzuführen sind, dass die Äußerungen dieses Nicknames von zwei verschiedenen Personen stammen. Datum (18) mag dieselbe Funktion erfüllen: (18) fozzy-baer_zweisam Es ist aber auch möglich, den Zusatz zweisam als Ausdruck von fozzy-baers Gemütszustand zu sehen – vielleicht ist er oder sie schlicht und einfach verliebt. Das bringt uns zu einer weiteren Klasse von Manipulationen des eigenen Pseudonyms: den expressiven Selbstcharakterisierungen. Expressive Selbstcharakterisierung
In somatischer Interaktion kann sich der Gemütszustand eines Gesprächspartners
auf vielen Ebenen offenbaren – auf sprachlicher ebenso wie para- und nonverbaler
Ebene. Das Verhalten eines Menschen, der zutiefst deprimiert ist, unterscheidet
sich in vielerlei Hinsicht von dem eines frisch Verliebten, der auf Wolke Sieben
schwebt – eine triviale Beobachtung, aber wieder eine, die auf das rein
schriftliche Medium IRC nicht in der selben Weise übertragbar ist. Ohne para-
und nonverbale Signale kann auch ein psychischer Ausnahmezustand selbst an
aufmerksamen Gesprächspartnern vorübergehen. Um das Verhalten des Gegenübers in
einem adäquaten Rahmen interpretieren zu können, sind Informationen über seine
Befindlichkeit aber durchaus relevant. Die eigene Befindlichkeit explizit zu
formulieren, ohne dabei eine besondere kommunikative Absicht zu verfolgen –
praktisch als reines FYI
Wie behelfen sich die Mitglieder der Chat-Gemeinschaft in diesem Dilemma? Auch hier bietet sich wieder der Nickname als Plattform für metakommunikative Informationen an. Das Pseudonym sagt ja bereits etwas über den Träger aus, und wenn dieser sich entschließt, der dadurch zur Verfügung gestellten Information weitere hinzuzufügen (also sich selbst näher zu charakterisieren), dann macht er damit zwar de facto eine bewusste Aussage über sich selbst, ist aber nicht offensichtlich als Urheber der Aussage erkennbar – was der Selbstcharakterisierung beinahe den Charakter einer objektiven Beschreibung verleiht: (19) blueSultan_selig (20) Tropical_in_LOVE_A (21) jessi_inlove (22) [VoLlTrAuRiG]Jordan (23) Octallus_Schaedlweh Es darf angenommen werden, dass die Äußerungen des Teilnehmers blueSultan_selig in einem anderen Rahmen interpretiert werden als jene von [VoLlTrAuRiG]Jordan. Diese Zusätze können also als Kontextualisierungsstrategie angesehen werden, die auf der Rahmungsebene wirksam wird.
Diese Funktion ist aber sicherlich nicht der einzige Grund für eine derartige
Manipulation des eigenen Pseudonyms. In ihrer ausführlichen Diskussion von
Nicknames in IRC stellt Bechar-Israeli (1995: section "SUMMARY & DISCUSSION")
As expected, the largest category of nicknames consisting of almost half of the total, was that of nicks related to the self in some way. It is natural for people to try and bring their identity to the fore. In a domain lacking physical elements, where each participant is represented by text alone, it is natural for people to manipulate this means, which is one of the few available for expressing some part of their character.
Auch wenn Selbstcharakterisierungen wie die oben angeführten in Bechar-Israelis
Untersuchung nicht erwähnt werden, passen sie doch zu dieser Einschätzung. Indem
sie den Teilnehmern ermöglichen, ihre "identity to the fore" zu bringen,
erfüllen sie eine expressive Funktion. Zudem fungieren sie immer wieder als
Anlass für Kommentare anderer Teilnehmer und dienen damit dazu, Kommunikation zu
initiieren. Man könnte hier eine Parallele zu den populären
KFZ-Wunschkennzeichen und den seit einiger Zeit beliebten T-Shirts mit
Aufschriften wie "Superstar", "Bad Girl"
(24) blueSultan_without_mail (25) ALKOFIX_noch_43_Tage [bis zu seinem Geburtstag] (26) BONES|milka-ess (27) Red^Crisu^Bull (28) JoRdY_NaChMiTtAg Diese Art von Manipulationen von Nicknames haben schon gewisse Merkmale einer Performance. Manipulation des eigenen Nicknames als PerformanceRekapitulieren wir eine der von Bechar-Israeli identifizierten Typen von Manipulationen von Nicknames: eine Gruppe lässt sich charakterisieren als
a solo game in which a person changes his or her nickname while trying to find
his or her electronic identity and relating to what is happening in the channel
In den vorliegenden Daten gibt es einige Fälle von spielerischen Veränderungen
des eigenen Nicknames, auf die diese Beschreibung passt. So wechselt etwa speedy
seinen Nickname während einer ereignislosen Periode gegen fad und etwas später,
als wieder mehr Leben in den Channel gekommen ist, wieder zurück. Allerdings
treten auch einige Fälle auf, in denen es weder um elektronische
Identitätsfindung noch um die Geschehnisse im Channel zu gehen scheint, sondern
anscheinend purer Spieltrieb bzw. die Inszenierung eines
Performance-Rahmens
(vgl. Danet, Ruedenberg & Rosenbaum-Tamari 1997
Nutzer bONES etwa hat die Internetadresse einer Seite mit Musikfiles erhalten. Die Änderungen, die er daraufhin an seinem Nickname durchführt, stehen in Beziehung mit den Musikstücken, die er dort gefunden hat – nach david_hazelnut (spielerische Verballhornung des Interpreten David Hasselhoff), froggy und Biene_Maja (Titellied der gleichnamigen Kinderserie) kehrt er wieder zu seinem angestammten Pseudonym zurück. Während dieser Zeitspanne ist das bONES' einziger Beitrag zur Interaktion. bONES scheint allgemein Spaß an der Manipulation seines Nicknames zu haben: er benützt zur Schreibung seines Pseudonyms gelegentlich die typographisch ähnlichen Symbole |30N35. Ein anderer Teilnehmer ändert sein Pseudonym aus nicht näher erläuterten Gründen alle paar Minuten und nimmt die Bezeichnungen diverser Getränke und Lebensmittel an, was einen anderen Nutzer zu der Bemerkung veranlasst: gehst jetzt das ganze Sortiment durch?. Red^Crisu^Bull ändert sein Pseudonym nach einer Anspielung auf seine Trinkgewohnheiten zu BLUE_Crisu_BULL. Metus erlaubt sich den Spaß, gelegentlich als URVIECH aufzutreten, was unweigerlich zu Heiterkeit und großer Neugier führt (also URVIECH was ist dein "normaler" nick???) Und im Zuge einer Pretend-Play-Sequenz in einem Flirt-Rahmen kommt es zwischen NickName1 (männlich) und NickName2 (vermutlich weiblich) zu folgender Interaktion:
(29) NickName1: Nick2 rutsch a stückerl ich komm zu dir Diese spielerischen Veränderungen des eigenen Pseudonyms können klar als Kontextualisierungshinweise für einen spielerischen oder Performance-Rahmen angesehen werden. Manipulation der Nicknames anderer TeilnehmerNeben der oben besprochenen spielerischen Veränderung des eigenen Pseudonyms ist es auch gängige Praxis, die Nicknames anderer Teilnehmer auf verschiedene Weisen zu manipulieren. Betrachten wir zunächst die auftretenden Formen von Manipulation, bevor wir uns möglichen Funktionen zuwenden. Sehr häufig etwa ist die Praxis, längere Nicknames abzukürzen. LAMBADA wird etwa regelmäßig zu lambi, EsCuLaP zu esci usw. Das scheint in einem so von Geschwindigkeit geprägten Medium wie IRC nicht weiter bemerkenswert zu sein – allerdings gibt es in den meisten Chat-Clients eine Funktion, die es ermöglicht, mit wenigen Tastendrucken einen beliebigen kompletten Nickname ausgeben zu lassen (z.B. Anfangsbuchstabe des Namens + Tabulator-Taste). Daher scheint es wahrscheinlich, dass diese Verkürzungen zumindest nicht ausschließlich auf das Ökonomieprinzip zurückzuführen, sondern eher in einer Reihe mit anderen 'verniedlichenden' orthographischen Manipulationen (supi, oki usw.) zu betrachten sind. In dieselbe Kategorie fallen auch Koseformen wie die folgenden, die gleich lang oder sogar länger sind als das Original (also keineswegs durch die Ökonomie motiviert sein können): Koseformen(30) bONES --> BONSL (31) snoopi --> snoopilein (32) BuzZzZzZzZ --> BuzZzZzZzZi (33) zeus --> zeusl; zeuserl (34) locke --> locker'l
Ein ähnliches Beispiel findet sich auch bei Bechar-Israeli (1995)
Immer wieder werden Pseudonyme anderer Teilnehmer auch in quasi 'phonetischer' Transkription, oft mit dialektaler Färbung, wiedergegeben: phonetische Transkription/ dialektale Färbung(35) speedy --> schpeedy; schpidi (36) flightman --> fleigtmen (37) dj --> ditschi (38) XXL-Wing --> iks iks el (39) na-k7 --> nakasim Besonders deutlich wird die sprachliche Kreativität der Nutzer in Manipulationen, die den Nickname eines anderen Users erweitern, semantisch paraphrasieren oder übersetzen. Erweiterung/ Ausbau(40) JamesBlond --> James der Blonde (41) blueSultan --> sultan in blau gehalten semantische Paraphrase/ Übersetzung(42) vier --> fünfminuseins (43) killakanickl --> häschen (44) Red^Crisu^Bull --> crisu, rosa stier (45) ^zeus --> göttervater (46) speedy --> da schnölle (47) blueSultan --> blauer (48) earthling --> erdling Derartige spielerische Manipulationen scheinen sich aber – soweit feststellbar – auf die Nicknames bekannter und wohlintegrierter Mitglieder der Chat-Gemeinschaft zu beschränken. Neue und unbekannte Teilnehmer werden zumeist mit ihrem 'korrekten' Pseudonym angesprochen; Veränderungen werden mit einem Smiley markiert und Tippfehler sorgfältig korrigiert: Nicknames unbekannter Teilnehmer(49) Petra --> pedra :) (50) josefin: josefine --> -e (51) bernd: bernt --> -t+d Offensichtlich ist die Manipulation von Nicknames anderer User nicht allein auf den Spaß am kreativen Sprachspiel zurückzuführen. Auch der spielt zweifellos eine Rolle – gerade bei originellen Verballhornungen wie nakasim oder fünfminuseins. Doch die Tatsache, dass solche Spiele bei Pseudonymen unbekannter Nutzer eher vermieden werden, legt den Schluss nahe, dass es sich hier um ein face-relevantes Vorgehen handelt. Welche Funktionen, insbesondere Kontextualisierungsfunktionen, werden also von solchen Strategien erfüllt?
Das Versehen von Pseudonymen mit gewissen regionaltypischen Merkmalen ist
sicherlich der allgemeinen Verwendung von
Dialekt und Umgangssprache zuzuordnen.
Wie im entsprechenden Abschnitt ausgeführt, kann die Verwendung von Dialekt und
Umgangssprache zum einen als orality markers (Androutsopoulos 1998: section 6
Um die Signifikanz von originellen Paraphrasen bzw. Erweiterungen von Nicknames
zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, dass der Nickname in dieser
virtuellen Umgebung das einzige Element ist, das einer physischen Repräsentation
des Teilnehmers nahe kommt – er ist quasi das einzige reale Element (real im
Sinne von 'nicht nur in der Fantasie der Interaktanten präsent'), das einem
Nutzer wirklich 'gehört'. Das ist auch der Grund für die Empörung, die
ausbricht, wenn jemand das Pseudonym eines anderen 'gestohlen' hat (vgl.
Bechar-Israeli 1995
Auch außerhalb der Domäne der computervermittelten Kommunikation ist das Spiel mit dem Namen eines anderen Menschen nicht unproblematisch. So bemerkt David Crystal in Language Play:
Permitting others to play with your name (a pet name or nickname) is an
important sign of intimacy ...
Aus diesem Grund und wegen der oben erwähnten Faktoren soll an dieser Stelle
argumentiert werden, dass das Spiel mit dem Pseudonym einer anderen Person –
"games based on the meaning of a nickname and references made to it"
(Bechar-Israeli 1995: section "Playing with nicknames on IRC"
Wie oben erwähnt, kann eine solche Strategie allerdings nur dann funktionieren,
wenn davon ausgegangen werden kann, dass der Träger des manipulierten Pseudonyms
das nicht als Zeichen von mangelndem Respekt oder Versuch, sich über ihn lustig
zu machen, auslegen wird. Bei noch unbekannten Teilnehmern kann man sich dessen
nicht sicher sein – deshalb wird von Veränderungen ihres Nicknames meist
abgesehen und eine irrtümliche Verballhornung aufgrund eines Tippfehlers
korrigiert. Allgemeine Korrekturen von Tipp- und Rechtschreibfehlern können die
Funktion haben, das eigene Face zu schützen, indem sie zeigen, dass der
betreffende Nutzer der Orthographie mächtig ist; hier allerdings kommt
vermutlich die Wahrung des face bzw. personal space des Nickname-Trägers hinzu.
Die Korrektur von Fehlern in fremden Pseudonymen demonstriert, dass man die in
das Pseudonym verlängerte Identität des Gegenübers achtet – es handelt sich also
um einen Fall von negative politeness (vgl. Brown & Levinson 1987
Ebenfalls eine Form von facework, allerdings unter anderen Vorzeichen, steht
wahrscheinlich hinter Formen wie tittn (statt Titan) und vielleicht auch
crisu,
rosa stier (statt Red^Crisu^Bull). Es dürfte sich hier um ritual insults
handeln, wie sie gerade bei jungen Männern (die den größten Anteil der
Chat-Gemeinschaft einnehmen) als Teil des facework verbreitet sind
(vgl. z.B. Labov 1972
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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