Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
Inflektive und Zuschreibungsturns |
Inflektive und Inflektivkonstruktionen gehören zu den auffälligsten linguistischen Besonderheiten der deutschsprachigen Chat-Kommunikation. Zwar findet sich die Form auch in anderen Formen der computervermittelten Kommunikation und gelegentlich selbst im Real Life, typischerweise werden sie aber mit Chat assoziiert und finden dort auch eine besonders große Verbreitung. Konkret handelt es sich dabei um nicht flektierte reine Verbstämme mit mehr oder weniger komplexen Argumenten. In deutschsprachigen Chatrooms ist es üblich, Inflektivkonstruktionen zwischen zwei Asteriske zu setzen (im englischsprachigen Raum werden Formen wie <sigh>, <yawn> etc. meist mit Spitzklammern versehen). Lautwörter wie seufz, ächz und saus sind vor allem aus
den von Erika Fuchs übersetzten Donald Duck-Comics aus der Feder von Carl Barks
hinlänglich bekannt (s. Dolle-Weinkauff 1990: 70
Inzwischen hat auch die Linguistik - "hinterherhink, sich
dranhäng, wichtigmach" - die Verbform anerkannt und (dankenswerterweise)
benannt, als "Inflektiv" nämlich oder wahlweise auch als "Infinite
Verb-Letzt-Konstruktion". Denn "stotterstotter", "schlabber", "schlürf",
"hüstelhüstel" und Ähnliches gehören inzwischen zum (gesprochenen)
Kommunikationsalltag. Aber auch die so genannten komplizierteren
"Inkorporationen" wie etwa "aufdenputzhau" oder "maulaufreiß" verbreiteten sich
immer weiter. Tatsächlich stammt die Bezeichnung "Inflektiv" von Teuber (1998)
(1) *NickName1 restln von NickName2 ausm channel kehrt* Hier haben wir einen kompletten Aussagesatz inklusive Subjekt, zwei Komplementen und finitem Verb, jedoch mit Verbendstellung, eine im Deutschen bislang nicht akzeptable Wortstellung. Offensichtlich handelt es sich um nach dem Muster der Inflektivkonstruktionen gebildete Formen mit flektiertem Verb. Dennoch sollen auch solche Formen im Folgenden der Einfachheit halber weiterhin als "Inflektivkonstruktionen" bezeichnet werden. Vielfach werden Inflektive und Inflektivkonstruktionen pauschal mit
"Handlungen" bzw. "actions" gleichgesetzt und mit Pretend Play in Verbindung
gebracht – und häufig trifft diese Charakterisierung auch zu. Datum (2) ist ein
gutes, wenn auch nicht besonders friedliches Beispiel
(2) NickName1: *railgunauspack*
Dieser blutige Cyberstreit (dessen Auslöser und Anfänge leider außerhalb des Protokolls liegen) zeigt außerordentlich gut den spielerischen Charakter vieler IRC-Interaktionen. Die Konvention, Inflektive in Asteriske einzuschließen, ist längst nicht mehr auf diese Elemente beschränkt. Ein aussagekräftiges, wenn auch etwas extremes Beispiel liefert die persönliche Homepage einer siebzehnjährigen Chatterin, deren Schreibstil und Syntax noch vor wenigen Jahren kaum als Deutsch gegolten hätten. Einige Textproben: SharifMik...lernte dich so ziemlich am *anfang* war das
*feuer* kennen *lol* na schmarrn *gewitter,blitzzz,donner*..*angsthab* mich
*hintercouchversteck* war schon ein geiler *sommerabend* im chatt
*oftdrandenk*..bist voll ein *sweetboy*..*dichganzfestkitzel*..*busserl*
Munichboy! Einige dieser Asteriske kann man auch als Kennzeichen für Emphase ansehen, aber der Übergang ist offensichtlich fließend. Was an diesem Ausschnitt jedenfalls auch zu erkennen ist, ist, dass die übliche Charakterisierung von Inflektiven als "Handlungen" bzw. "actions" nur teilweise zutrifft. *totbin*, *angsthab*, aber auch *gewitter,blitzzz,donner*, in dem blitzzz und donner sowohl als inflektivische Verben als auch als Nomina gesehen werden können, lassen sich eher als Beschreibungen charakterisieren. Ähnliches trifft möglicherweise auf Formen wie *g* und *s* zu (die im Abschnitt Emoticons beschrieben werden): auch wenn man Grinsen und Seufzen als Handlung bezeichnen könnte, so scheint doch eine Charakterisierung als Beschreibung passender. Einen ganz ähnlichen Charakter haben die von Storrer (2001b)
(3) a. ich hör grad musik dann generiert das Programm aus dieser Eingabe automatisch eine Äußerung wie b. NickName sagt: ich hör grad musik bzw. – je nach verwendetem Programm c. <NickName> ich hör grad musik[.] Gibt er dagegen ein d. /me hört grad musik dann sieht die Ausgabe des Programms so aus: c. Nickname hört grad musik [.] Diese Möglichkeit ist innerhalb der menschlichen Kommunikation ziemlich einzigartig: der Autor einer Äußerung wird durch sie von seiner Aussage getrennt und tritt nunmehr als Thema in einer augenscheinlich nicht von ihm selbst produzierten Proposition auf. Dies führt zu einer Aspektverschiebung, die nicht nur den Autor scheinbar von der Verantwortung für die Äußerung trennt und diese damit als ein Typ von indirektem Sprechakt erscheinen lässt, sondern auch mit den Inflektivkonstruktionen einen gewissen deskriptiven Aspekt gemeinsam hat. Die kommunikativen Möglichkeiten dieser Konvention sind vielfältig – einige Beispiele aus den vorliegenden Daten sollen die Breite dieses Spektrums verdeutlichen: (4) NickName1 umarmt NickName2 und gibt ihr ein dickes bussi (5) NickName hat heute schon zum 2 mal seinen aschenbecher gefüllt. (6) NickName raucht eine, damit er endlich den aschenbecher ausleeren MUSS (7) NickName überlegt schon, was er alles schreiben könnte (8) NickName HAT MORGEN GEBURTSTAG!!!!!!!!!!!!! (9) NickName LOL'T a amal in den channel (10) NickName tritt nicht gegen Schnitten an (11) NickName thinks: WER WILL MIT MIR CHATTEN??????????????????????? (12) NickName vasteht a fost ollas :-)) (13) NickName geht jetzt ins bett (freut sich irgendwer? *sfg*) (14) NickName sattelt sein Pferd und reitet gen Sonnenuntergang (15) NickName verabschiedet sich jetza............... (16) NickName1 welches opfer hast NickName2 feute? (17) NickName reeeeeeeeeeeeeeee In den Beispielen (16) und (17) hat die Form des Zuschreibungsturns keine
syntaktische Funktion – offensichtlich ist sie zum Zweck der
Emphase gewählt worden, weil sie die Äußerung
auffälliger macht (Zuschreibungsturns werden von den meisten Chatprogrammen auf
eine bestimmte Weise gekennzeichnet, z.B. durch eine andere Farbgebung oder
durch drei Asteriske am Anfang der Zeile). Neben real erscheinenden Beschreibungen des Nutzerverhaltens
in Actionzeilen [Zuschreibungsturns] bricht sich oft die Kreativität der Nutzer
Bahn, so daß fiktive Handlungen dargestellt werden. Während die Umarmung und das dicke Bussi in (4) ebenso wie das 'in den Channel lachen' in (9) und der westernwürdige Abgang in (14) nur innerhalb der diskursiven Realität des Channels existieren und möglich sind, handelt es sich beim übervollen Aschenbecher der Beispiele (5) und (6) und der Nachtruhe in (13) zumindest aller Wahrscheinlichkeit nach um tatsächlich Existierendes. Die erstgenannten Fälle betreffen die virtuelle Persona des Produzenten, den durch den Nickname repräsentierten Avatar, der sich gemeinsam mit anderen 'im' Channel aufhält; die drei letztgenannten auf die Person aus Fleisch und Blut, die an Bildschirm und Tastatur sitzt. Vermutlich auf beide Personae anwendbar sind die restlichen Fälle – besonders wenn es sich um die Darstellung geistiger Prozesse handelt, ist keine klare Trennlinie mehr zwischen Avatar und Mensch mehr zu ziehen. Diese Ausführungen treffen genauso auf Inflektivkonstruktionen zu und könnten möglicherweise sogar auf die gesamte Chat-Interaktion angewandt werden. Generell können Inflektive und Zuschreibungsturns in IRC ganz ähnliche Funktionen erfüllen. Wie wir weiter oben gesehen haben, kann man diese Funktionen – auch wenn es natürlich auch hier einen Übergangsbereich gibt – in mindestens zwei Grundtypen klassifizieren: performativ und narrativ/ deskriptiv. Performative FunktionDen Charakter performativer Inflektive und Zuschreibungsturns erläutert Herring so: [some actions] are performative in nature; they count as
'acts' ... solely by virtue of having been typed[.] Sie sind also verwandt mit deklarativen Sprechakten ("A speech act that
brings about a change by being uttered" (Yule 1996: 128
Unstrittige Beispiele sind die scherzhaften Brutalitäten in Datum (2) (*baseballschlägerzück*,
*dasnasenbeinzertrümmer* usw.), aber auch freundlichere Fälle wie das häufig
und in diversen Variationen auftretende *bussi* und die Beispiele (4),
(9) und (15). So wie man IRC als Gesamtheit als
Modulation von Face-to-Face-Interaktion betrachten
kann (vgl. Rosenau 2001
Dabei ist es theoretisch durchaus möglich, dass zwei "versions of reality"
"incompatible" sind (Herring o.J.: 11
Narrativ/ deskriptivHerring (o.J.: 11)
Snychronous CMD[iscourse] ... provides a special communication
command which can be used to describe actions or states in the third person.
This command is often used to expand dialogue into narrative performance. Beispiele für eine solche deskriptive bzw. narrative Verwendungsweise sind
z.B. die oben erwähnten Fälle *totbin* und *angsthab*, die
Zuschreibungsturns (7), (10) und (12) und Formen wie *grins* und
*neugierigseintu*. Sie ähneln manchmal Regieanweisungen in Theaterstücken
oder Leseanweisungen. Der Unterschied zur performativen Funktion liegt darin,
dass hier keine neuen Handlungen gesetzt werden, die zum thematischen
Fortschreiten der Interaktion beitragen, sondern Rahmeninformation
gegeben wird, die dazu beiträgt, andere Äußerungen oder die Interaktion selbst
im Sinne des Produzenten zu interpretieren. Bei diesen Formen handelt es sich
also um Kontextualisierungshinweise. In leichter Verkürzung bemerkt Herring (o.J.: 11)
In addition to facial expressions
Für die von Herring angeführten Beispiele ist das sicherlich zutreffend (vgl.
Abschnitt Emoticons). Allgemein kann man aber nicht
davon sprechen, dass durch Text repräsentierte "physical actions"
Kontextualisierungshinweise seien: einerseits macht auch Herring keinen
Unterschied zwischen der performativen und narrativ/ deskriptiven
Verwendungsweise, andererseits handelt es sich um explizit ausformuliertes
Material, weswegen sie nicht unter die von Auer angeführte engere Definition
fallen ("non-referential, non-lexical contextualization cues" (Auer 1992: 24
Inflektive und Zuschreibungsturns als KontextualisierungshinweiseIm Zusammenhang mit Inflektiven und Zuschreibungsturns kann man Kontextualisierungshinweise auf mehreren Ebenen identifizieren. Auf der Sprechaktebene kann man sagen, dass die Asteriske, mit denen Inflektive typischerweise umschrieben werden, als Satzzeichen den Inhalt als Beschreibung kontextualisieren. Betrachten wir nochmals den Ausschnitt aus Topgirlyys Homepage: SharifMik...lernte dich so ziemlich am *anfang* war das
*feuer* kennen *lol* na schmarrn *gewitter,blitzzz,donner*..*angsthab* mich
*hintercouchversteck* war schon ein geiler *sommerabend* im chatt
*oftdrandenk*..bist voll ein *sweetboy*..*dichganzfestkitzel*..*busserl*
Munichboy! Wie erwähnt, ist der Übergang zum Einsatz von Asterisken als Zeichen für Emphase hier fließend. Allerdings lässt sich bei genauerer Betrachtung feststellen, dass tatsächlich viele der solcherart markierten Phrasen eine deskriptive Komponente haben. Das Verhalten der Produzentin wird beschrieben mit *angsthab* mich *hintercouchversteck*, *oftdrandenk* und *dichganzfestkitzel*..*busserl*, ihre Reaktion auf die gefahrvollen Aktivitäten im Urlaub (jetski,banana,wasserski) mit *umfall* *totbin*. Ihren Chat-Bekannten SharifMik bzw. ihren Bruder beschreibt sie mit den Phrasen *sweetboy* bzw. *schlawiner* und *blödsinnimkopf*. *gewitter,blitzzz,donner* sowie *sommerabend* und später [*]moonlightswimming* werden zur deskriptiven Ausgestaltung einer bestimmten Gelegenheit bzw. Atmosphäre eingesetzt. Bei den im Chat mit Asterisken versehenen Phrasen trifft das auch zu: *NickNameletzterippevonmilkaschenk*, und *gspanntwiagummiringerlaufdeswasNickNamebringtwart* haben gleichermaßen einen deskriptiven Aspekt wie *bussi*, *baseballschlägerzück* und *neugierigseintu*. Es darf also spekuliert werden, dass die Asteriske tatsächlich eine kontextualisierende Funktion erfüllen, ausgehend ursprünglich von Inflektivkonstruktionen, dann generalisiert auch auf andere Formen anwendbar. Kontextualisierungspotenzial kann auch in der Wahl der Form selbst
(Zuschreibungsturn bzw. Inflektivkonstruktion) vermutet werden. Selting (1995:
10)
Wie oben angerissen, sind Inflektive ein sehr typisches sprachliches Mittel für Chat-Kommunikation. Man kann ihn daher auch als Kontextualisierungshinweis für die gemeinsame Zugehörigkeit zur Gruppe der Chatter ansehen – er kontextualisiert geteiltes Hintergrundwissen. Da Inflektive häufig im Pretend Play zur Anwendung kommen, kann man sie auch als Kontextualisierungshinweis für einen spielerischen, informellen Rahmen betrachten. Formen wie die von Herring (o.J.: 11)
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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