Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
IRC zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit |
Die Einordnung der Kommunikationsform 'Chat' in die Dichotomie 'schriftliche vs. mündliche Sprache' ist ein Thema, das in einer großen Anzahl von Arbeiten zur computervermittelten Kommunikation behandelt wird. Zahlreiche Autoren haben sich mit der Frage nach der Zugehörigkeit einer synchronen, aber graphisch realisierten Interaktionsform befasst, die in Spontaneität und Unmittelbarkeit der oralen Kommunikation nahe kommt. Der Konsens in nahezu allen Arbeiten ist anscheinend, dass Chat Merkmale beider Kommunikationsmodi aufweise, und gerne wird davon gesprochen, dass es sich hier um eine neuartige Hybridform von schriftlicher und mündlicher Sprache handle. Was dabei aber häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Realisierung
von für die mündliche Kommunikation typischen Merkmalen mit graphischen Mitteln
keiner weltweiten Vernetzung mittels fortgeschrittener elektronischer
Technologie bedarf. Seit der Erfindung der Schrift haben ja Menschen mündliche
Sprache in graphische Zeichen zu fassen versucht. So vergleicht Jörg Kilian
(2001: 55f.)
Am 4. Dezember. Wir finden hier die üblicherweise
gesprächsschritteinleitend verwendete Formel >>Ich bitte dich<< zur Einleitung
des folgenden Widerspruchs; wir finden die in der gesprochenen Sprache
beheimatete Einleitung einer rhetorischen Frage (>>Siehst du<<); wir finden
emphatische Ausrufe (>>all!<<) und des Weiteren auch typische Phänomene der
gesprochenen Sprache in medialer Schriftlichkeit, z.B. Endungsausfall
(>>trag'<<) und Kontraktionen (>>ist's<<). Das alles ist schriftlich fixierte
konzeptionelle Mündlichkeit im papierenen Brief. Wie man auch zu typisch mündlichen Elementen in medial schriftlichen
Textsorten stehen mag, ist es doch unzweifelhaft, dass Chat trotz seiner
graphischen Realisierung einer, wenn auch mündlich realisierten,
Face-to-Face-Plauderei näher steht als etwa einem wissenschaftlichen Text. Wie
Bader (2002: 112)
Der Begriff "konzeptionelle Mündlichkeit" bezieht sich auf das von Koch &
Österreicher (1994)
Der wissenschaftliche Vortrag ist also beispielsweise
trotz seiner Realisierung im phonischen Medium konzeptionell 'schriftlich',
während der Privatbrief trotz seiner Realisierung im graphischen Medium
konzeptioneller 'Mündlichkeit' näher steht. 'Konzeptionelle Mündlichkeit/ Schriftlichkeit' ist also vom Medium abgekoppelt. Was aber bezeichnet dieses Begriffspaar konkret? Koch & Österreicher geben die Antwort: Hinter dem, was hier als konzeptionelle Mündlichkeit/
Schriftlichkeit bezeichnet wird, verbergen sich fundamentale Charakteristika von
Kommunikationssituationen. Sie lassen sich fassen mit Hilfe von Parametern wir
'raum-zeitliche Nähe oder Distanz der Kommunikationspartner',
'Emotionalität', 'Situations- und Handlungseinbindung', ... 'kommunikative
Kooperation', 'Dialog/ Monolog', 'Spontaneität', 'Themenfixierung' usw. Der grundlegendste dieser Parameter ist das Kontinuum Nähe-Distanz. Konzeptionell mündliche Kommunikation kann durch kommunikative Nähe charakterisiert werden, während für konzeptionell schriftliche Kommunikation tatsächliche oder metaphorische Distanz zwischen den Interaktanten typisch ist. IRC ist, ähnlich wie der erwähnte Privatbrief, in jenem Quadranten des Modells einzuordnen, der durch die Pole 'medial schriftlich' und 'konzeptionell mündlich' gebildet wird. Obgleich zwischen den Gesprächspartnern tatsächlich oft erhebliche räumliche Distanz herrscht, scheint die synchrone Form der Interaktion und die durch den gemeinsamen Interaktionskontext im Chatroom suggerierte virtuelle Kopräsenz auszureichen, um den Eindruck kommunikativer Nähe zu erzeugen. Dies wird auch durch die in Chat-Channels häufig zu beobachtende räumliche Deixis bezeugt – die Teilnehmer befinden sich im Chat, sprechen von ihrem Chatroom als hier und von anderen Channels als drüben. Der Sprachgebrauch der Chattenden liefert auch einen weiteren wichtigen
Hinweis darauf, wie sie diese Kommunikationsform wahrnehmen. So erwähnt Bader
(2002: 109)
Trotzdem geht die Kommunikationsform Chat noch einen Schritt weiter als die
bisher bekannten konzeptionell mündlichen Textsorten, denn wie Storrer (2001b)
Zum ersten Mal wird schriftliche Sprache genuin und im
großen Stil für die situationsgebundene, direkte und simultane Kommunikation
genutzt. ... >>Genuin<< heißt, dass die Schriftlichkeit in keinem systematischen
Verhältnis zu einer vorgängigen oder nachträglichen medialen Mündlichkeit steht. Das bedeutet, dass Chat weder die Transkription einer mündlichen Interaktion ist wie z.B. ein Gerichtsprotokoll, noch für eine spätere orale Realisierung verfasst wird wie etwa ein Hörspiel oder Theaterstück. Trotzdem besteht, wie wir gesehen haben, eine enge Verbindung zur Oralität. Wie ist das zu erklären? Der Grund dafür liegt möglicherweise im Phänomen der
Subvokalisation, das besagt, dass sowohl beim
Schreiben wie auch beim Lesen phonologische Repräsentationen der betreffenden
Wörter aktiviert werden: die Chattenden versuchen, das, was sie von ihrer
'inneren Stimme' hören, in graphische Zeichen zu übertragen und 'hören' auch das
von ihren Gesprächspartnern Getippte. Damit kann man eigentlich doch von einer
sowohl "vorgängigen" als auch "nachträglichen" Mündlichkeit sprechen, ein
Argument, das für jede Form schriftlicher Kommunikation gilt, denn – wie im
Abschnitt Subvokalisation angemerkt – kommt
dieser Mechanismus praktisch automatisch zur Anwendung und ist nur nach langem
Training auszuschalten.
Ungeklärt bleibt bis jetzt allerdings immer noch die Frage, wieso sich
Chatprotokolle trotz ihrer Nähe zur Mündlichkeit so schlecht bzw. so gut wie gar
nicht phonisch realisieren lassen. Die Antwort liefert Androutsopoulos (1998:
section 7)
[T]he question arises whether these strategies in mediated discourse are merely a reflex of their counterparts in face-to-face interaction or wether [sic] they also make use of medium-specific properties and margins. At least as far as contextualization is concerned, the latter seems to be the case. An dieser Stelle soll nun die Meinung vertreten werden, dass diese "medium-specific properties and margins" nicht nur im Bereich der Kontextualisierungshinweise ausgenützt werden. Die menschliche Sprachfähigkeit ist (zum Leidwesen mancher Puristen) kreativ, und immer schon haben Kommunikanten die Ressourcen ihres Kommunikationssystems ausgeschöpft – was den gewünschten kommunikativen Effekt erzielt, wird benützt. Im Chat haben sich so zahlreiche Konventionen etabliert, die die Möglichkeiten des ASCII-Zeichensatzes ausnützen. Viele Kontextualisierungskonventionen in den vorliegenden Daten reflektieren jene der Face-to-Face-Interaktion, viele – wie etwa die erwähnten Emoticons - haben aber auch kein eindeutiges Pendant in der somatischen Kommunikation. Und auch abseits des Bereichs der Kontextualisierungshinweise trifft man auf Phänomene, die sich für eine orale Realisierung kaum eignen – häufig ist das Spielerisches wie die erwähnte ASCII-Art, aber auch die Verbalisierung von verhältnismäßig trivialen Kürzeln wie der Frage nach dem Geschlecht des Gesprächspartners – NickName m/w? – erfordert bereits eine erhebliche Konvertierungsleistung. Aus einem ganz anderen, aber überaus interessanten Blickwinkel betrachtet
Rosenau (2001)
Oszillation zwischen einem 'sich-anheimgeben' dem inneren
Rahmen der face-to-face-Interaktion sowie einem 'sich-bewußt-machen' des äußeren
Rahmens der Fern-Interaktion. Dies passt auch zu der bereits beschriebenen häufigen Bezugnahme der Chattenden auf die Unangebrachtheit der Verwendung von Wörtern aus dem semantischen Feld der oralen Kommunikation zur Charakterisierung der Chat-Interaktion. Sollte Rosenaus Beschreibung zutreffen, so muss der Rahmen der Mündlichkeit immer wieder kontextualisiert werden, um die Illusion aufrechtzuerhalten – eine weitere Erklärung für das gehäufte Auftreten von typisch konzeptionell mündlichen Merkmalen.
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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