Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

IRC zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

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Die Einordnung der Kommunikationsform 'Chat' in die Dichotomie 'schriftliche vs. mündliche Sprache' ist ein Thema, das in einer großen Anzahl von Arbeiten zur computervermittelten Kommunikation behandelt wird. Zahlreiche Autoren haben sich mit der Frage nach der Zugehörigkeit einer synchronen, aber graphisch realisierten Interaktionsform befasst, die in Spontaneität und Unmittelbarkeit der oralen Kommunikation nahe kommt. Der Konsens in nahezu allen Arbeiten ist anscheinend, dass Chat Merkmale beider Kommunikationsmodi aufweise, und gerne wird davon gesprochen, dass es sich hier um eine neuartige Hybridform von schriftlicher und mündlicher Sprache handle.

Was dabei aber häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass die Realisierung von für die mündliche Kommunikation typischen Merkmalen mit graphischen Mitteln keiner weltweiten Vernetzung mittels fortgeschrittener elektronischer Technologie bedarf. Seit der Erfindung der Schrift haben ja Menschen mündliche Sprache in graphische Zeichen zu fassen versucht. So vergleicht Jörg Kilian (2001: 55f.) die geschriebene Mündlichkeit im Chat mit der Verschriftlichung von mündlich überlieferten Texten wie etwa dem althochdeutschen Hildebrandlied und weist darauf hin, dass heutige Chat-Interaktionen in einem erheblichen Maße stärker an schriftsprachlichen Normen orientiert sind als diese uralten Zeugnisse, der Inbegriff deutschsprachigen Schrifttums – aus dem einfachen Grund, dass es zum Zeitpunkt der erstmaligen Niederschrift dieser ältesten überlieferten deutschen Dichtung noch keine orthographischen Normen gab, nach denen man sich hätte richten können. Im Prinzip geschieht in den heutigen Chat-Kanälen nichts anderes als um 810 in einem Fuldaer Kloster: man versucht, das gesprochene Wort in Buchstaben zu fassen. Und wenn etwa der E-Mail-Kommunikation "die Annäherung ans gesprochene Wort, die flotte Dialogisierung des Geschriebenen im in-group-Stil der Altersgenossen" angekreidet wird (Hess-Lüttich 1997: 234 [Hervorhebung im Original] ), dann muss dieses Vergehen an der ehrwürdigen deutschsprachigen Briefkultur schon Goethe zur Last gelegt werden. Kilian zitiert einen "literarischen Brief des wohl 22-jährigen Werthers an seinen Freund Wilhelm vom 4. Dezember 1772:"

Am 4. Dezember.
Ich bitte dich – Siehst du, mit mir ist's aus, ich trag' es nicht länger! Heute saß ich bei ihr – saß, sie spielte auf ihrem Klavier, mannigfaltige Melodien, und all den Ausdruck! all! – all! – Was willst du? – [...].
Goethe 1774 [1986]: 110

Wir finden hier die üblicherweise gesprächsschritteinleitend verwendete Formel >>Ich bitte dich<< zur Einleitung des folgenden Widerspruchs; wir finden die in der gesprochenen Sprache beheimatete Einleitung einer rhetorischen Frage (>>Siehst du<<); wir finden emphatische Ausrufe (>>all!<<) und des Weiteren auch typische Phänomene der gesprochenen Sprache in medialer Schriftlichkeit, z.B. Endungsausfall (>>trag'<<) und Kontraktionen (>>ist's<<). Das alles ist schriftlich fixierte konzeptionelle Mündlichkeit im papierenen Brief.
Kilian 2001: 65

Wie man auch zu typisch mündlichen Elementen in medial schriftlichen Textsorten stehen mag, ist es doch unzweifelhaft, dass Chat trotz seiner graphischen Realisierung einer, wenn auch mündlich realisierten, Face-to-Face-Plauderei näher steht als etwa einem wissenschaftlichen Text. Wie Bader (2002: 112) feststellt, "überwiegen auf struktureller und funktionaler Ebene typische Merkmale konzeptioneller Mündlichkeit."

Der Begriff "konzeptionelle Mündlichkeit" bezieht sich auf das von Koch & Österreicher (1994) vorgestellte Modell, in dem 'mediale' Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit 'konzeptioneller' Schriftlichkeit bzw. Mündlichkeit gegenübergestellt wird. Während ersteres Begriffspaar eine Dichotomie bildet, sind 'konzeptionelle Mündlichkeit/ Schriftlichkeit' dagegen "Endpunkte eines Kontinuums" (Koch & Österreicher 1994: 587 ). Diese Trennung von Medium und Konzeption erlaubt die Erklärung der Eigenschaften weniger prototypischer Textsorten:

Der wissenschaftliche Vortrag ist also beispielsweise trotz seiner Realisierung im phonischen Medium konzeptionell 'schriftlich', während der Privatbrief trotz seiner Realisierung im graphischen Medium konzeptioneller 'Mündlichkeit' näher steht.
ibid.

'Konzeptionelle Mündlichkeit/ Schriftlichkeit' ist also vom Medium abgekoppelt. Was aber bezeichnet dieses Begriffspaar konkret? Koch & Österreicher geben die Antwort:

Hinter dem, was hier als konzeptionelle Mündlichkeit/ Schriftlichkeit bezeichnet wird, verbergen sich fundamentale Charakteristika von Kommunikationssituationen. Sie lassen sich fassen mit Hilfe von Parametern wir 'raum-zeitliche Nähe oder Distanz der Kommunikationspartner', 'Emotionalität', 'Situations- und Handlungseinbindung', ... 'kommunikative Kooperation', 'Dialog/ Monolog', 'Spontaneität', 'Themenfixierung' usw.
Koch & Österreicher 1994: 587f. [Hervorhebung im Original]

Der grundlegendste dieser Parameter ist das Kontinuum Nähe-Distanz. Konzeptionell mündliche Kommunikation kann durch kommunikative Nähe charakterisiert werden, während für konzeptionell schriftliche Kommunikation tatsächliche oder metaphorische Distanz zwischen den Interaktanten typisch ist.

IRC ist, ähnlich wie der erwähnte Privatbrief, in jenem Quadranten des Modells einzuordnen, der durch die Pole 'medial schriftlich' und 'konzeptionell mündlich' gebildet wird. Obgleich zwischen den Gesprächspartnern tatsächlich oft erhebliche räumliche Distanz herrscht, scheint die synchrone Form der Interaktion und die durch den gemeinsamen Interaktionskontext im Chatroom suggerierte virtuelle Kopräsenz auszureichen, um den Eindruck kommunikativer Nähe zu erzeugen. Dies wird auch durch die in Chat-Channels häufig zu beobachtende räumliche Deixis bezeugt – die Teilnehmer befinden sich im Chat, sprechen von ihrem Chatroom als hier und von anderen Channels als drüben.

Der Sprachgebrauch der Chattenden liefert auch einen weiteren wichtigen Hinweis darauf, wie sie diese Kommunikationsform wahrnehmen. So erwähnt Bader (2002: 109) , dass die Aktivität des Chattens selbst häufig mit Verben aus dem semantischen Feld 'mündliche Kommunikation' benannt wird – auch in den der vorliegenden Arbeit zugrunde liegenden Daten ist ganz unmarkiert die Rede von plaudern, sich unterhalten, schreien und zuhören. Die sich dadurch ergebende Ironie wird häufig zu Sprachspielen ausgenützt, indem Sagensverben durch schreiben und Verben der somatischen Perzeption (sehen, hören) durch lesen ersetzt werden – und gerade die Absurdität der so entstehenden Konstrukte (schön, dich zu lesen) belegt ein weiteres Mal die enge Verflechtung dieses Mediums mit der Oralität.

Trotzdem geht die Kommunikationsform Chat noch einen Schritt weiter als die bisher bekannten konzeptionell mündlichen Textsorten, denn wie Storrer (2001b) feststellt, sind die im Chat-Diskurs entstehenden Protokolle weder zur Verbalisierung intendiert noch dazu geeignet. Emoticons, Akronyme und graphostilistische Manipulationen wie Farben, unkonventionelle Schreibweisen oder gar ASCII-Art lassen den Versuch des Vorlesens schnell an seine Grenzen stoßen, denn:

Zum ersten Mal wird schriftliche Sprache genuin und im großen Stil für die situationsgebundene, direkte und simultane Kommunikation genutzt. ... >>Genuin<< heißt, dass die Schriftlichkeit in keinem systematischen Verhältnis zu einer vorgängigen oder nachträglichen medialen Mündlichkeit steht.
Storrer 2001b: 4

Das bedeutet, dass Chat weder die Transkription einer mündlichen Interaktion ist wie z.B. ein Gerichtsprotokoll, noch für eine spätere orale Realisierung verfasst wird wie etwa ein Hörspiel oder Theaterstück. Trotzdem besteht, wie wir gesehen haben, eine enge Verbindung zur Oralität. Wie ist das zu erklären?

Der Grund dafür liegt möglicherweise im Phänomen der Subvokalisation, das besagt, dass sowohl beim Schreiben wie auch beim Lesen phonologische Repräsentationen der betreffenden Wörter aktiviert werden: die Chattenden versuchen, das, was sie von ihrer 'inneren Stimme' hören, in graphische Zeichen zu übertragen und 'hören' auch das von ihren Gesprächspartnern Getippte. Damit kann man eigentlich doch von einer sowohl "vorgängigen" als auch "nachträglichen" Mündlichkeit sprechen, ein Argument, das für jede Form schriftlicher Kommunikation gilt, denn – wie im Abschnitt Subvokalisation angemerkt – kommt dieser Mechanismus praktisch automatisch zur Anwendung und ist nur nach langem Training auszuschalten. Selbstverständlich sind aber nicht alle schriftlich realisierten Kommunikationsformen so nah an der Oralität wie die Chat-Kommunikation, was sicherlich damit zusammenhängt, dass in den meisten schriftlichen Kommunikationssituationen wesentlich mehr Zeit zur Verfügung steht als beim Chatten. Monitoring- und Elaborations-Prozesse, wie sie bei der Produktion herkömmlicher schriftlicher Texte einsetzen, können in der Hektik der synchronen Chat-Kommunikation schlichtweg nicht greifen. Die Norm eines informellen Rahmens, der einen entsprechend lockeren Sprachstil vorschreibt, tut ein Übriges, um zu verhindern, dass der Einfluss der Subvokalisation nicht im selben Maße unterdrückt wird wie bei anderen Formen schriftlicher Kommunikation. Und falls man der Theorie von Rosenau (s. unten) zustimmt, muss die Chat-Kommunikation sogar so deutlich wie möglich an der Oralität orientiert sein.

Ungeklärt bleibt bis jetzt allerdings immer noch die Frage, wieso sich Chatprotokolle trotz ihrer Nähe zur Mündlichkeit so schlecht bzw. so gut wie gar nicht phonisch realisieren lassen. Die Antwort liefert Androutsopoulos (1998: section 7) mit seiner Bemerkung über Kontextualisierungsstrategien in vermittelter Kommunikation:

[T]he question arises whether these strategies in mediated discourse are merely a reflex of their counterparts in face-to-face interaction or wether [sic] they also make use of medium-specific properties and margins. At least as far as contextualization is concerned, the latter seems to be the case.

An dieser Stelle soll nun die Meinung vertreten werden, dass diese "medium-specific properties and margins" nicht nur im Bereich der Kontextualisierungshinweise ausgenützt werden. Die menschliche Sprachfähigkeit ist (zum Leidwesen mancher Puristen) kreativ, und immer schon haben Kommunikanten die Ressourcen ihres Kommunikationssystems ausgeschöpft – was den gewünschten kommunikativen Effekt erzielt, wird benützt. Im Chat haben sich so zahlreiche Konventionen etabliert, die die Möglichkeiten des ASCII-Zeichensatzes ausnützen. Viele Kontextualisierungskonventionen in den vorliegenden Daten reflektieren jene der Face-to-Face-Interaktion, viele – wie etwa die erwähnten Emoticons - haben aber auch kein eindeutiges Pendant in der somatischen Kommunikation. Und auch abseits des Bereichs der Kontextualisierungshinweise trifft man auf Phänomene, die sich für eine orale Realisierung kaum eignen – häufig ist das Spielerisches wie die erwähnte ASCII-Art, aber auch die Verbalisierung von verhältnismäßig trivialen Kürzeln wie der Frage nach dem Geschlecht des Gesprächspartners – NickName m/w? – erfordert bereits eine erhebliche Konvertierungsleistung.

Aus einem ganz anderen, aber überaus interessanten Blickwinkel betrachtet Rosenau (2001) das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in IRC. Wie im Abschnitt Frames und Framing in IRC beschrieben, sieht der Autor die Schriftlichkeit des IRC als Modulation von Face-to-Face-Interaktion im Sinne Goffmans und erklärt den Reiz dieser Interaktionsform mit der

Oszillation zwischen einem 'sich-anheimgeben' dem inneren Rahmen der face-to-face-Interaktion sowie einem 'sich-bewußt-machen' des äußeren Rahmens der Fern-Interaktion.
Rosenau 2001: 12

Dies passt auch zu der bereits beschriebenen häufigen Bezugnahme der Chattenden auf die Unangebrachtheit der Verwendung von Wörtern aus dem semantischen Feld der oralen Kommunikation zur Charakterisierung der Chat-Interaktion. Sollte Rosenaus Beschreibung zutreffen, so muss der Rahmen der Mündlichkeit immer wieder kontextualisiert werden, um die Illusion aufrechtzuerhalten – eine weitere Erklärung für das gehäufte Auftreten von typisch konzeptionell mündlichen Merkmalen.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann