Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Prosodie

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Unter Prosodie versteht man nach Bußmann (1990) die

Gesamtheit sprachlicher Eigenschaften wie --> Akzent, --> Intonation, --> Quantität, Sprechpausen. Sie beziehen sich im allgemeinen auf Einheiten, die größer sind als ein einzelnes Phonem. Zur P. zählt auch die Untersuchung von Sprechgeschwindigkeit, Rhythmus und Sprechpausen.

Es handelt sich also um einen Sammelbegriff für nichtlexikalische, suprasegmentale Phänomene der gesprochenen Sprache. Gumperz (1982: 100 : Hervorhebungen A.S.) zählt konkret die folgenden Elemente zur Prosodie:

(a) intonation, i.e. pitch levels on individual syllables and their combination into contours;
(b) changes in loudness;
(c) stress, a perceptual feature generally comprising variations in pitch, loudness and duration;
(d) other variations in vowel length;
(e) phrasing, including utterance chunking by pauses, accelerations and decelerations within and across utterance chunks; and
(f) overall shifts in pitch register.

Die Funktionen, die durch prosodische Phänomene erfüllt werden können, sind vielfältig und in der Literatur bei weitem nicht unumstritten. Beatrix Schönherr formuliert als "kleinste[n] gemeinsamer Nenner" des Forschungsstandes in "etwas sarkastischer Zuspitzung":

1. Es gibt prosodische Akzente, und zumindest einige davon sind wichtig zur Festlegung des Fokus sowie zum Ausdruck von Kontrast und Emphase.
2. Der finale Tonhöhenverlauf einer intonatorischen Einheit ist (oft) irgendwie relevant für die Bedeutung bzw. Funktion der Einheit.
3. Prosodie hat gliedernde Funktion.
4. Das akustische Sprachsignal vermittelt darüber hinaus paralinguistische Informationen (was aber nicht zur Prosodie im engeren Sinn zählt).
Schönherr 1997: 13 (Hervorhebungen A.S.)

Unbestritten ist aber, dass Prosodie eine wichtige, wenn nicht sogar eine der wichtigsten Ressourcen überhaupt für Kontextualisierungsverfahren in gesprochener Sprache bietet. Niemand wird leugnen, dass die prosodische Ausgestaltung einer Botschaft höchst signifikante Auswirkungen darauf haben kann, wie die Botschaft aufgenommen wird – also in welchem Rahmen sie vom Empfänger interpretiert wird. Prosodische Phänomene werden somit häufig als prototypische Beispiele für Kontextualisierungshinweise herangezogen. So beschreibt etwa Gumperz selbst in Discourse Strategies (1982) diverse interkulturelle Missverständnisse, die seiner Ansicht nach auf unterschiedliche Kontextualisierungskonventionen im Bereich der Prosodie zurückzuführen sind – z.B. den im Kapitel Kontextualisierung beschriebenen Fall des westindischen Busfahrers, dessen freundlich insistierendes "please" von den Londoner Fahrgästen als drohend empfunden wurde, oder die immer wiederkehrenden Probleme zwischen Personal und Gästen in einer Flughafencafeteria: in den ureigenen Kontextualisierungskonventionen der aus Asien stammenden Buffetkräfte signalisiert fallende Intonation eine Sprechaktivität wie "höfliches Anbieten", im westlichen Kulturkreis dagegen ruft sie einen Rahmen von Bestimmtheit und Faktizität hervor. Wenn die Angestellten also statt "Gravy?" (mit final steigender Intonation) "Gravy." (mit final fallender) sagten, wurde ihre Intention nicht wahrgenommen als "Darf ich Ihnen etwas Bratensauce dazugeben?" sondern eher als "Sie kriegen jetzt einen Schöpfer Bratensauce. Widerstand ist zwecklos!"

Auch außerhalb von interkulturellen Settings wurde die Rolle der Prosodie als Kontextualisierungshinweis bereits vielfach untersucht. In seiner Einleitung zum Sammelband The Contextualization of Language (1992) demonstriert Auer die praktische Anwendbarkeit der Kontextualisierungstheorie an einem Gesprächsextrakt zweier Kinder und zeigt ausführlich, wie durch prosodische und paralinguistische Merkmale Sprecherrollen und Sprechaktivitäten inszeniert werden. Die 1988-1994 von der Universität Konstanz herausgegebene Reihe KonTri – Kontextualisierung durch Rhythmus und Intonation erkundet die kontextualisierende Funktion der Prosodie in Bereichen von Frage-Antwortsequenzen über die Aktivität 'Auflisten' bis hin zum Zitieren und Nachahmen. Die "Interaktion sprachlicher und parasprachlicher Ausdrucksmittel im Gespräch" aus der Sicht der Kontextualisierungstheorie hat Schönherr (1997) anhand von Daten aus der Fernsehdiskussionssendung Club 2 untersucht, und seit 1998 demonstrieren auch diverse Arbeiten aus der Konstanzer KonTri-Nachfolgereihe InList (Interaction and Linguistic Structures) die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten prosodischer Phänomene im Rahmen dieses Ansatzes.

Da die Signifikanz der Prosodie für die Kontextualisierung so gut nachgewiesen ist, hat die Frage, ob und mit welchen Mitteln ihre kontextualisierenden Funktionen im schriftlichen Medium erfüllt werden, besondere Brisanz. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die nähere Betrachtung des Phänomens der Subvokalisation, des sowohl beim Schreiben wie auch beim Lesen auftretenden 'stillen Mitsprechen' des schriftlichen Textes. In der vorliegenden Arbeit sollen zumindest für das Medium Chat einige Anhaltspunkte für die Funktionsweise von originär prosodischen Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium dargelegt werden.

 


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann