Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Subvokalisation

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Um ein Verständnis für die Funktionsweise von Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium zu erreichen, ist es sinnvoll, die Frage der psycholinguistischen Relation zwischen mündlicher und schriftlicher Realisation von Sprache anzureißen. Wie im betreffenden Abschnitt erläutert, können wir davon ausgehen, dass es in schriftlicher Kommunikation zwei Typen von Kontextualisierungskonventionen gibt:

  1. prosodieabhängige Kontextualisierungskonventionen
  2. prosodieunabhängige Kontextualisierungskonventionen

Zur ersteren Gruppe zählen graphische Phänomene, denen ein phonologisches Pendant in der Face-to-Face-Kommunikation zugeordnet werden kann. Satzzeichen etwa sind eng mit Prosodie verbunden, Reduplikation einzelner Zeichen steht ikonisch für die Längung der signalisierten Laute, und der Einsatz von Großbuchstaben steht fast immer für erhöhte Lautstärke. Prosodieunabhängige Kontextualisierungskonventionen können in der Lautsprache nicht realisiert werden. Beispiele hierfür sind Emoticons, der Einsatz von Farben und bestimmte orthograische Markierungen wie etwa das Ingroup-Signal –z in Bildungen wie [bewunderte Person oder Sache] rulez.

Wir sehen also, dass eine Gruppe von schriftlichen Kontextualisierungskonventionen systematisch gewissen prosodischen Signalen aus der Face-to-Face-Kommunikation entspricht. Es ist hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass zwischen diesen beiden Modalitäten nicht nur eine konzeptuelle, sondern eine sehr reale Verbindung besteht – die Subvokalisation. Hierbei handelt es sich um das Phänomen, dass sowohl beim Schreiben wie auch beim Lesen phonologische Repräsentationen der fraglichen Wörter aktiviert werden:

[R]eading activates phonological word representations of the phylo- and ontogenetically older auditory language system ... . This phenomenon is often referred to as phonological (re)coding ..., or, more figurative [sic], as 'internal voice' (Chafe, 1988 ).
Steinhauer & Friederici 2001: 269

Das heißt, wir 'sprechen geistig mit' – sowohl beim Schreiben als auch beim Lesen, und zwar unwillkürlich:

The activation of phonological information ... is not a strategy, or at least, not an easily controlled one. Instead, it may be a process automatically activated during silent reading ...
McCutchen & Perfetti 1982: 685

Dieses 'Mitsprechen' von schriftlichen Texten ist zumindest im unserer Kultur so tief verwurzelt, dass für Mitmenschen, die für derlei keine Zeit zu haben glauben, mittlerweile eigene Seminare angeboten werden, in denen gelehrt wird, diesen Prozess zu unterdrücken. Zum Beispiel verspricht die so genannte "Michelmann-Methode",

das Mitsprechen bewußt zu unterdrücken, das Sprechzentrum bei der Informationsaufnahme auszuschalten. Man liest dann gleichsam rein photographisch, so schnell, wie man die Buchstaben ins Blickfeld nimmt.
Horstkotte 1999: keine Paginierung

Wenn das 'gleichsam rein photographische' Lesen so vorteilhaft ist, welche Funktion erfüllt dann die Subvokalisation? Eine Hypothese besagt, dass prosodische Information für die Satzverarbeitung entscheidende Bedeutung besitzt und ein Wegfall dieses Kanals durch den Leser kompensiert werden muss:

This hypothesis suggests that subvocalization reorganizes the visual input into a representation that provides ready access to the information needed for sentence processing. Spoken language has an abundance of information over and above the sounds which make up the individual words. ... In contrast with the rich prosodic structure provided in spoken language, written language provides impoverished cues. If prosodic information is used in sentence processing, the reader must find some way to compensate for the lack of prosody in reading. This may be the role of subvocalization. Through subvocalization, the reader can reorganize the written sentence into a prosodic structure. Prosodic structures encode pattern information necessary for complex processing and highlight important information.
Slowiaczek & Clifton 1980: 581

Außer bei Menschen, deren Muttersprache die Gebärdensprache ist , ist also die Verarbeitung von schriftlicher Sprache nicht von jener der Lautsprache zu trennen. Dies hat unmittelbare Auswirkungen auf die Konzeption von Kontextualisierungskonventionen im schriftlichen Medium: wenn beim Schreiben (und beim Lesen) unwillkürlich eine Lautgestalt inklusive ihrer prosodischen Ausgestaltung materialisiert wird, dann ist davon auszugehen, dass prosodieabhängige schriftliche Kontextualisierungskonventionen die Kontextualisierungsleistung nicht selbst übernehmen, sondern lediglich auf die entsprechenden prosodischen Kontextualisierungskonventionen der Face-to-Face-Kommunikation verweisen.

Betrachten wir als Beispiel die Zeichensetzung, deren Zusammenhang mit der Prosodie gut belegt ist; so signalisiert ein Punkt meist final-fallende Satzintonation (vgl. z.B. Chafe 1988 ):

[T]he simplified hypothesized processing order in writers may be
Syntax --> (subvocal) Prosody --> Punctuation
and the reverse order may apply to readers.
Steinhauer & Friederici 2001: 268f.

Fig. 1

Fig. 2

Hätte der Produzent die fragliche Äußerung nicht niedergeschrieben, sondern vokal realisiert, so hätte er sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch auf der prosodischen Ebene mit Kontextualisierungshinweisen versehen, die beim Rezipienten dann den entsprechenden Interpretationsrahmen hervorgerufen hätten (Fig. 1). Erfolgt die Kommunikation aber über das schriftliche Medium, so 'übersetzt' der Produzent einige prosodischen Merkmale seiner Rede zunächst in Satzzeichen. Der Rezipient nimmt auf Basis seiner Kenntnis des konventionellen Kodes die 'Rückübersetzung' in Prosodie vor (Fig. 2). Erst die solcherart rekonstruierten prosodischen Kontextualisierungshinweise rufen dann beim Leser des Textes den entsprechenden Rahmen hervor. Da jedoch die Möglichkeiten zur prosodischen Ausgestaltung unendlich vielfältiger sind als die Möglichkeiten einer auch noch so differenzierten Zeichensetzung, kann es bei diesem Prozess notwendigerweise zu Übertragungsfehlern kommen.

Alphabetschriften kennen im Allgemeinen neben dem Zeichensetzungssystem keinerlei Möglichkeiten, suprasegmentale Phänomene zu übermitteln. Damit sind die Versuche, die diesbezüglich in der Chat-Kommunikation unternommen werden, eventuell als ein Schritt in diese Richtung zu werten.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann