Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Erwartungsstrukturen

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[P]eople approach the world not as naive, blank-slate receptacles ..., but rather as ... veterans of perception who have stored their prior experiences as "an organized mass," and who see events and objects in the worlds in relation to each other and in relation to their prior experience. This prior experience or organized knowledge then takes the form of expectations about the world, and in the vast majority of cases, the world, being a systematic place, confirms these expectations, saving the individual the trouble of figuring things out anew all the time.
Tannen 1993: 20f.

Seit Jahrzehnten spielt das Konzept, dass wir unsere Erfahrungen in einer Weise organisieren, dass sie uns später die Identifikation und Interpretation neuer Situationen erleichtern, eine wichtige Rolle in einem breiten Spektrum an wissenschaftlichen Disziplinen – wenn nicht sogar in allen jenen Disziplinen, die sich in irgendeiner Form mit menschlichem Denken und Verhalten beschäftigen. Tannen (1993) nennt kognitive und Sozialpsychologie, Soziologie und Anthropologie ebenso wie die AI-Forschung und natürlich die Linguistik. Für diesen Grundgedanken haben die einzelnen Disziplinen verschiedene Termini entwickelt – der vielleicht allgemeinste ist der der 'Erwartungsstrukturen' (structures of expectation), eingeführt von Ross (1975) . Daneben kursieren auch die Begriffe scripts (hauptsächlich in der Artificial Intelligence-Forschung verwendet), Schemata (in Linguistik und AI) und der heute am weitesten verbreitete Terminus frame (dt. Rahmen), der auf Bateson zurückgeht und besonders in den soziologisch und anthropologisch orientierten Forschungsrichtungen Verwendung findet.

Ein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal der Auffassung des Konzepts in den unterschiedlichen wissenschaftlichen Traditionen ist die Konzeption der Erwartungsstrukturen als statisch oder dynamisch. Eine Richtung der Artificial Intelligence, vertreten z.B. von Marvin Minsky, sieht den Rahmen als statische Ansammlung von Daten über eine stereotype Situation. Eine ähnliche Auffassung wird in der Linguistik etwa in der klassischen, von der Sprechakttheorie und der Pragmatik abgeleiteten Diskursanalyse vertreten. Der Rahmen gilt hier als abstraktes semantisches Konstrukt, durch das Weltwissen auf die Interpretation einer Interaktion angewandt wird. Die Grundfrage lautet, welches Wissen ein Teilnehmer haben muss, um in der Lage zu sein, Sprechakte richtig zu identifizieren.

Die ethnographisch und soziologisch orientierten Forschungstrditionen dagegen betonen den kulturspezifischen, interaktiven und dynamischen Charakter von Erwartungsstrukturen. Nach Tannen (1993: 19) wird der interaktive Charakter des Rahmenkonzepts besonders im Ansatz des Anthropologen Frake (1977) stark hervorgehoben. Nach seiner Sicht handelt es sich dabei eben nicht um statische kognitive Strukturen, die im Kopf jedes Beteiligten vorhanden sind und vom Forschenden nur abgerufen zu werden brauchen, nein: "the key aspect of frames is what the people are doing when they speak" (Tannen 1993: 19 [Hervorhebung im Original] ). In der Linguistik geht etwa die Ethnographie der Kommunikation nach Dell Hymes davon aus, dass sich extralinguistisches, soziokulturelles Hintergrundwissen dynamisch in der Interaktion äußert: es wird "revealed in the performance of speech events" (Gumperz 1982: 154 [Hervorhebung A.S.] ). Diese sind in Form und Inhalt kulturspezifisch und reflektieren kulturspezifische Normen. Rahmen sind in dieser Tradition nur eines von mehreren means of speaking, das in der ethnographischen Beschreibung einer Sprechsituation ebenso beschrieben werden muss wie das Genre, das sprachliche Repertoire der Kultur und verwendete Sprechakte. In der Kontextualisierungsforschung operiert Gumperz mit dem Begriff der speech activity, der viel mit Goffmans frame-Begriff gemeinsam hat.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann