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Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
Orthographische Manipulation |
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Es ist davon auszugehen, dass in einem rein schriftlichen Medium wie IRC
Kontextualisierungskonventionen auf Basis
von Orthographie eine wichtige Rolle spielen. Als Ausgangspunkt für eine nähere
Betrachtung empfiehlt sich hier wieder ein Blick in die Literatur. Im Ansatz von
Androutsopoulos (1998)
(i) orality markers, i.e. spelled-out features of colloquial
German, and Unter "contextualization cues" versteht Androutsopoulos nur eine relativ schmale Bandbreite von Phänomenen (wie weiter unten besprochen) und stellt diese Gruppe einer Klasse von Mündlichkeitssignalen gegenüber. In diesem Punkt soll der Auffassung von Androutsopoulos widersprochen werden. Auch die "orality markers" können als Kontextualisierungshinweise angesehen werden, wie im Folgenden ausgeführt wird. MündlichkeitssignaleDie von Androutsopoulos in den von ihm untersuchten Fanzines identifizierten "orality markers" form a part of the young fanzine writers' orientation towards
conceptual orality. In particular we are dealing with a whole range of features,
from very common ones which appear in mass media as well (e.g. gibt's for gibt
es 'there is') to rare ones which may also appear in comics or private letters
(e.g. inner for in der 'in the'). IRC-Protokolle sind den von Androutsopoulos erwähnten Comics und
Privatbriefen als medial schriftliche, aber konzeptionell mündliche Textsorte
nahe verwandt. Deshalb verwundert es nicht, dass solche Phänomene auch in der
Chat-Kommunikation in großer Zahl auftreten. So spricht auch Bader (2002)
In den vorliegenden Daten kommen zahlreiche Formen von orthographischer Anpassung an die Realitäten mündlicher Kommunikation zur Anwendung. Fast durchgängig getilgt wird etwa das auslautende –e in Verbalformen der ersten Person Singular (würd, hab, schau usw.) Artikel und Pronomen werden vielfach in phonologisch abgeschwächter Form transkribiert (a [ein/e], an [einen], da [der], i [ich], ma [mir] usw.). Typische phonologische Prozesse einer ostösterreichischen Umgangssprache werden realisiert (z.B. Lenisierung wie in bidde, dangge, ogge, subba; Tilgung von Auslauten, z.B. is, no, scho; Änderungen der Vokalqualität wie in büüde, daunk sche, nagööööö usw.), und auch morphonologische Phänomene der gesprochenen Sprache werden übertragen, z.B. Kontraktionen wie namd [Guten Abend], sers [Servus], dere [Habe die Ehre] usw. oder das klitische –s in Verbalformen der zweiten Person Plural (z.B. habts, erwähnts, würdets). Die Relevanz dieser Formen als
Kontextualisierungshinweise wird vornehmlich anhand von zweierlei
Rahmungen deutlich. Zum einen offenbart sie sich anhand
der großen Bedeutung, die die Verwendung der regionalen Varietät als
Rahmungsstrategie für gemeinsame Gruppenzugehörigkeit hat. Solche Schreibweisen
sind quasi die Bausteine einer regional gefärbten Sprachgestaltung im
schriftlichen Medium und spielen so eine wesentliche Rolle bei der Inszenierung
des Rahmens der Solidarität. Zum
anderen ist auf den Ansatz von Rosenau (2001)
Androutsopoulos' eng gefasstes Konzept integriert diese Gruppe allerdings wie erwähnt nicht in die Klasse von Kontextualisierungshinweisen, sondern identifiziert sie als allgemeine Untergruppe von nicht dem Standard entsprechenden Schreibweisen. "Contextualization cues" in seinem Datenmaterial definiert der Autor wie folgt: A second type of non-standard spellings consists of features
which do not appear regularly but rather sporadically and bear a particular
relation to the context. I will argue that they can be interpreted as
contextualization cues which assign a frame of interpretation to the piece of
discourse in which they appear. Innerhalb dieser Klasse unterscheidet Androutsopoulos zwei Typen von Kontextualisierungshinweisen: zum einen solche, die eine "distinction from the outgroup" signalisieren, zum anderen Demonstrationen von "subcultural originality or radicalness" (ibid.). Abgrenzung von der OutgroupAbgrenzung von einer nicht der eigenen Subkultur angehörenden Gruppe von
'Anderen' geschieht in den von Androutsopoulos untersuchten Fanzines zumeist
vermittels eines "switch to a regional variety of German". Dialekt
charakterisiert in den zum Großteil aus Deutschland stammenden Fanzines meist
die bezüglich der Subkultur ahnungslosen Anderen – es handelt sich also um "an
instance of metaphorical code switching". Auf ähnlichen Prämissen basiert auch
die zweite Möglichkeit zur Abgrenzung, das "spelling of English loan words
according to German pronounciation [sic] rules", womit nach Androutsopoulos
(1998: section 6)
In der vorliegenden Chat-Gemeinschaft scheint Abgrenzung von einer anderen gesellschaftlichen Gruppe nur geringe Relevanz zu besitzen – in jedem Fall aber eine wesentlich niedrigere Priorität als in den von Androutsopoulos untersuchten Fanzines. Der Verwendung von Dialekt kommt, wie wir gesehen haben, eine andere Funktion zu. Es gibt allerdings einige wenige Fälle, in denen Beispiele der im folgenden Abschnitt erläuterten Typen von orthographischer Manipulation zum Zweck der Abgrenzung von unerwünschten Personen eingesetzt werden wie in Datum (7). Originalität bzw. Radikalität im Rahmen der SubkulturNach Augst (1989)
[T]hey contextualize the subcultural stance of the concept in
whose graphic representation they appear, or of the piece of discourse in which
they appear, and (by extension) the stance of the text producer. Auch in den vorliegenden Daten finden sich gelegentlich solche Schreibweisen: (3) ich habe aber einen kewlen jungen nuker
Das Ersetzen von Graphemen ist keineswegs auf Buchstaben beschränkt. Besonders in der Subkultur von Hackern (und Möchtegernhackern) spielen Ziffern und typografische Symbole eine große Rolle. Diese werden entsprechend einer – mitunter nur entfernten – optischen Ähnlichkeit zum ersetzten Zeichen eingesetzt. So wird etwa A zu 4 und E zu 3; O wird häufig durch die Null 0 ersetzt, i durch den vertikalen Strich | und H durch eine Kombination aus eckigen Klammern und Bindestrich: ]-[. Auch solche Schreibweisen finden wir in den vorliegenden Daten: 4) l4m3r =) (5) ]{m3sHuGg4h}[ (6) |30N35 Diese Schreibweisen können für Uneingeweihte schwer bis unmöglich zu
entziffern sein – mit Sicherheit einer der Gründe für ihren Einsatz. Datum (4),
l4m3er, steht für das aus der englischsprachigen
(Möchtegern-)Hackersprache entlehnte Schimpfwort lamer, gemäß dem
Jargon File ein Synonym für luser ("A user; esp. one who is also a loser") –
im Endeffekt "[s]omeone who knows not and knows not that he knows not" (Raymond
2002: "loser"
Solche Formen gibt es zwar im Datenmaterial, sie sind aber selten und werden
nur von gewissen Teilnehmern verwendet, die sich selbst als Angehörige einer
Hacker-Subkultur präsentieren wollen, eine Subkultur, die in der untersuchten
Chatgemeinschaft nur eine untergeordnete Rolle spielt
Manipulationen wie die genannten werden typischerweise mit einem Typus
assoziiert, der im englischen Sprachraum script kiddies genannt wird –
meist männliche Computernutzer kaum jenseits der Pubertät, die ihre
Computerkenntnisse dazu verwenden, feindselige Aktionen an irgendein Feindbild
(Institutionen, Autoritäten) repräsentierenden oder auch gänzlich unbeteiligten
Mitmenschen auszuführen. Script bezieht sich dabei auf die von den
Betreffenden bevorzugt eingesetzten Programme, die nicht selbst verfasst,
sondern bereits im fertigen Zustand aus dem Netz herunter geladen und allenfalls
selbst adaptiert worden sind. Aus diesem Grund sehen bereits länger etablierte
Hacker (die nach ihrem Selbstverständnis von den bösartigen Crackern
unterschieden werden wollen; vgl. Raymond 2002: passim
So erstaunt es nicht, dass diese Marker für die Zugehörigkeit zu einer gewissen Subkultur auch zur Abgrenzung eingesetzt werden können. Beispiel (7), der Kotext für Beispiel (3), soll dies illustrieren: NickName1, nach eigenen Angaben weiblich und 12 Jahre alt, ist schon seit längerem durch provokante Aussagen gegenüber den zum Teil wesentlich älteren anderen Interaktanten unangenehm aufgefallen. Die Szene kulminiert in einem Rausschmiss der unangepassten Teilnehmerin: (7) NickName1: uncoole alte weiber NickName3 verweist NickName1 nach ihrer beleidigenden Aussage des Chatraums und gibt ihrem Unmut Ausdruck (dillo). NickName2 kommt daher mit seinen Äußerungen ich habe aber einen kewlen jungen nuker und was sagst dazu? eigentlich zu spät, was von NickName3 entsprechend kommentiert wird – NickName1 sagt nix mehr dazu, da sie ja bereits aus dem Kanal geworfen worden ist. Was aber ist ein kewle[r] junge[r] nuker? Das englische to nuke, abgeleitet von nuclear [weapon], steht
eigentlich für "bomb or destroy with nuclear weapons" (The Concise Oxford
Dictionary of Current English, 9. Auflage 1995: "nuke"
Tout a commencé grâce à Micro$oft qui nous a offert une
petite surprise dans ses Windows 3.11, 95, NT 3.51 et NT 4.0. A cause de failles
présentes dans les gestionnaires réseaux de Windows, et si vous ne possèdez pas
de protections, n'importe qui peut planter votre ordinateur à distance. In Datum (7) spricht NickName2 also davon, dass er über ein solches Programm zum nuken anderer Teilnehmer verfügt – ein indirekter Sprechakt, der unschwer als Drohung zu erkennen ist. Als Kontrast zu NickName1s Beschimpfung der Interaktanten als uncoole alte weiber charakterisiert NickName2 dieses Programm als kewl [cool] und jung. Was hier interessiert, ist die Verwendung der Schreibweise kewl. Sie gehört in dieselbe Gruppe wie die oben erwähnte Praxis des Ersetzens von Buchstaben durch typografisch ähnliche Zeichen, wird vornehmlich mit wenig raffinierten jugendlichen Möchtegern-Hackern assoziiert und kann als Kontextualisierungshinweis für die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe gelten. NickName2 ist nach eigenen Angaben 36; es ist unwahrscheinlich, dass er sich dieser Gruppe zurechnet. Anzunehmen ist, dass er diese Form moduliert gebraucht: er schlüpft damit in die Rolle eines jugendlichen Hacker-Wannabes, einer Figur, die sowohl im Alter als auch bezüglich des Werts, der auf 'Coolness' gelegt wird, an die Teilnehmerin NickName1 angenähert ist. Dadurch distanziert er sich im Sinne des obigen Abschnitts von der durch sie repräsentierten Outgroup. Tatsächlich kommt es im weiteren Verlauf der Interaktion zu einer Sequenz, in der die ungeliebte Chatterin hartnäckig immer wieder in den Kanal kommt, aber jedes Mal wenige Zeilen später genukt wird, bis sie es schließlich aufgibt, in diesem Chatroom kommunizieren zu wollen. Im Verlauf derselben Interaktion meldet sich später ein anderer, nach eigenen Angaben vierzehnjähriger Teilnehmer mit der Äußerung Nuker san kewl :) zu Wort – hier vermutlich wieder als Marker für seine eigene Zugehörigkeit zur Subkultur der jugendlichen Computerexperten. Zu einem weiteren guten Beispiel für den Einsatz von script kiddie-typischen
Schreibweisen zur Abgrenzung von dieser Subkultur kommt es in einer anderen
Interaktion, die plötzlich durch ein bösartiges Flooding unterbrochen wird: im
Zusammenhang mit IRC bedeutet to flood gemäß dem Jargon File
(Raymond 2002: "flood"
Die in diesem und anderen Beispielen verwendeten orthographischen Manipulationen sind also fest mit der Welt (selbsternannter) Hacker verbunden. Ähnliche Phänomene, die die Zugehörigkeit zu einer 'Subkultur der Chatter' oder konkret der untersuchten Gemeinschaft kontextualisieren, finden sich kaum, da viele der immer wieder als "Chattersprache" bezeichneten Merkmale jugendsprachlich und/oder in der computervermittelten Kommunikation allgemein verbreitet sind. Hervorhebung durch orthographische ManipulationEine weitere und schwieriger einzuordnende Gruppe von orthographischen Manipulationen soll anhand der folgenden Beispiele vorgestellt werden: (8) rä (9) räh (10) ein schärtz (11) nüx nüx Beispiele (8) und (9) sind jeweils Realisationen von re, dem Gruß beim Wiederbetreten eines Channels. Beispiel (10) steht für ein scherz; Beispiel (11) steht für nix nix. Im vorliegenden Datenmaterial treten solche Manipulationen, die kaum etwas mit der phonologischen Realisation des Intendierten zu tun haben können, gelegentlich auf – sie lassen sich aber weder als orality markers noch als Marker für die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Subkultur einordnen. Sicherlich sind die Übergänge fließend; die oben als Beispiele für Lenisierung angeführten Daten dangge und ogge etwa könnten durchaus auch dieser Gruppe zugerechnet werden. Was aber zeichnet diesen Typus von orthographischer Manipulation nun aus? Welchen Grund kann ein Teilnehmer haben, das gebräuchliche Wort scherz durch einen Umlaut und den im Deutschen ohnedies umstrittenen Konsonantencluster tz zu verkomplizieren? Möglicherweise liegt der Grund genau darin – dass es sich um ein
gebräuchliches Wort handelt. Auch re und nix kommen im Chat
ausgesprochen häufig vor. Vielleicht handelt es sich hier ja um die
graphematische Entsprechung von sprachspielerischen Aktivitäten wie dem Sprechen
in ungewöhnlicher Stimmlage oder versehen mit ungewöhnlichen sprachlichen
Idiosynkrasien. David Crystal (1998)
A common form of conversational language play involves the
use of unusual voices which go well beyond the norms of conventional regional or
social accents. Especially popular with the younger generation, the voice is
simply 'funny' or 'stupid' ... often the speaker has no particular model in mind
at all. Es könnte sich bei den angeführten Beispielen um eine Parallele zu dieser Form des language play handeln. Auch die Formen schärtz, räh oder nüx haben vermutlich kein bestimmtes Modell, kein Vorbild, dem sie nachgebildet oder an das sie angelehnt sind. Es handelt sich dabei einfach um eine Möglichkeit, das eine oder andere Wort hervorzuheben, herauszuheben aus der Trivialität des täglichen Gebrauchs. Eine mögliche Funktion dieser Art von Sprachspiel in Face-to-Face-Kommunikation sieht Crystal in der Stärkung der Gruppenzusammengehörigkeit: Adopting bizarre voices seems to be a highly distinctive way
of achieving social rapport among the members of a group. They provide the group
with a very simple means of bonding. They help to affirm group identity ... Diese Funktion kann eine solche Form von sprachlicher Manipulation aber nur erfüllen, wenn es sich dabei um eine allgemein übliche Praxis innerhalb einer Ingroup handelt. Dies trifft auf die genannten Manipulationen im Chat nicht zu – sie werden nur sporadisch verwendet und stehen auch in keiner klar erkennbaren Beziehung zu bestimmten Aktivitäten. Allenfalls wäre auch hier wie bei so vielen anderen sprachlichen Phänomenen ein Bezug zu Facework denkbar – vielleicht kann diese Art von Sprachmanipulation auch als eine Form von Hedging dienen. Betrachten wir den Kontext der oben angeführten Beispiele: Die Daten (8) und (9) stammen aus dem face-relevanten Bereich des Grüßens. ein schärtz äußert ein Teilnehmer als Erklärung für eine missverständliche Äußerung. Datum (11) ergibt sich, als ein Interaktant eine andere, bisher schweigsame Teilnehmerin als Versuchskaninchen für einen Testlauf seines Scripts auserkoren und eine Äußerung produziert hat, die nur ihren Nickname beinhaltet, umringt mit einer dekorativen Girlande aus typografischen Zeichen. Irritiert fragt die Betreffende nach: was ist denn, NickName? Als Antwort darauf äußert der Angesprochene Datum (11) – nüx nüx. All diesen Beispielen, die an sich unterschiedlichen Aktivitäten entstammen, ist gemein, dass es sich um potenzielle face-threatening acts handelt. Es besteht also durchaus die Möglichkeit, dass Manipulationen wie die Genannten nicht ausschließlich einer sich Bahn brechenden sprachlichen Kreativität zuzuschreiben sind, sondern als Kontextualisierungsstrategie angesehen werden können. Eine weitere mögliche Interpretation ist, diese Formen als Formen von Sprachspiel allgemein und damit als Kontextualisierungshinweise für eine entspannte Atmosphäre anzusehen.
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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