Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Anredepronomen

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In Sprachen, die wie das Deutsche bei der Anrede eine Unterscheidung zwischen einem Nähe- und einem Distanzpronomen kennen, kann die Wahl des einen oder anderen Pronomens im Diskurs als wichtiger, ja geradezu prototypischer Kontextualisierungshinweis angesehen werden (vgl. Schmitt 1993: 333 ). Das gewählte Pronomen kann in verschiedenen Situationen Respekt oder Distanz, Vertraulichkeit oder Abwertung des Gesprächspartners signalisieren und damit sowohl die Beziehung zwischen den Interaktanten als auch den allgemeinen Situationsrahmen charakterisieren. Gumperz führt aus:

By choosing one or another of the pronouns in question, speakers can mark the interaction as having the relevant social characteristics. Pronoun usage, in other words, can function like nonverbal signs to determine how the interaction is framed. ... [F]raming ... conveys presuppositions about the social relationships among participants, and about how they intend their messages are to be interpreted.
Gumperz 1992a:43

Der Gebrauch und der Signalwert der Anredepronomina in der deutschen Sprache haben sich in den letzten Jahrzehnten gewandelt. War früher Sie das übliche Anredepronomen für Fremde und das Du dem intimen Freundeskreis vorbehalten, wird heute – zumindest unter jüngeren Menschen bis etwa 30 – in zunehmendem Maße das Du zur Standardanrede. Sie wird dagegen benutzt, um Distanz zu vermitteln. Wie Besch ausführt, können die Kontextualisierungspotenziale der beiden Systeme in unterschiedlichen Skalen zum Ausdruck gebracht werden:

>Formalität< versus >Intimität< grenzen das Sie der Möglichkeit 1 (= die alte Konvention) gegen das Du ab. Im neuen System (= Möglichkeit 2) sind die Orientierungspole für Sie und Du dagegen >soziale Distanz< und >Solidarität<.
Besch 1996: 24 [Hervorhebung im Original]

Besch (ibid.) fasst die Komponenten dieses "neuen Systems" in einer Tabelle zusammen:

Möglichkeit 2 (M2)
Verwendung Anrede-
form
richtet sich an: drückt aus: semantische Dimension
Standardanrede DU2 alle Mitglieder einer Bezugsgruppe, in der Solidarität besteht oder erwünscht ist. Solidarität, Gruppenzugehörigkeit, Interessen- oder Meinungsüberein-
stimmung
Solidarität
differenzierende Alternative SIE2 Inhaber höherer sozialer Positionen, Mitglied anderer Gruppen mit anderen Interessen oder Auffassungen Distanz, Nichtsolidarität, Konfrontation mit gesellschaftlich bestimmter Rollenstruktur soziale Distanz
ibid. 

Schon alleine dieser Zusammenhang lässt vermuten, dass auch im Chat, der ja mehrheitlich von jungen Menschen frequentiert wird (vgl. Das Datenmaterial), das Du vorherrschen wird. Tatsächlich bestätigt das Datenmaterial diese Einschätzung voll und ganz. Im gesamten vorliegenden Material findet sich kein einziges Mal eine Anrede mit Sie. Hess-Lüttich, der sich in der informellen Atmosphäre der computervermittelten Kommunikation anscheinend etwas unwohl fühlt, vermutet hier den verderblichen Einfluss der Globalisierung am Werk:

Die kulturelle Hegemonie des Amerikanischen entfaltet sich im Netz dabei aufs wirkungsvollste. Der Zwang zur Zwanglosigkeit, die lockere Anrede beim Vornamen, das schnelle "Du” unter den Surfern im Internet...
Hess-Lüttich 1997: 234

Dieses Du sei, so der Autor,

verlängert aus dem vertrauten Schüler- und Studenten-Du, das historisch eigentlich dem Genossen-Du entstammt, aber selbstverständlicher und unprätentiöser gebraucht wird als das 'alternative' Grünen-Du....
ibid.

Hess-Lüttich scheint zu vermuten, dass die 'Gemeinde der Internetnutzer' per se (deren Existenz fraglich ist) mit ihrem Gebrauch des vertrauten Pronomens einer Art ideologisch motivierte Verbrüderung nach Art der Studentenbewegung der 68er betreibt. Dieser Einschätzung widerspricht allerdings u.a. Schulze, der zu dem Schluss kommt:

The prevailing informal address of Du and christian [sic] name mentioned in Hess-Lüttich [1997: 234] is not a prolonged version of the Du used by students (Verlängerte Form des Schüler- und Studenten-Du) ... . It is the very same address persons of the age group 18-25 (which accounted for 69% of the IRC users answering the user poll) typically use when meeting face-to-face.
Schulze 1999: 80f. [Fußnote 9; Hervorhebung im Original]

Und Besch, der sich in ganz ähnlichem Wortlaut äußert wie Hess-Lüttich, erklärt:

Auch hat es [das Du] die anfänglich stark ideologisch-solidarische Markierung weitgehend verloren ... . Es ist sozusagen die Fortsetzung des Schüler-Du, selbstverständliche Anrede zwischen Personen jüngeren Alters (bis etwa 30?).
Besch 1996: 25 [Hervorhebung im Original]

Und er fügt hinzu: "Anderes kennen sie nicht." (ibid. )

Dem Gebrauch des vertrauten Anredepronomens Du unter den Chat-Teilnehmern allzu große Bedeutung beizulegen, wäre also verfehlt. Dennoch ruft dieses Pronomen in seiner Funktion als Standardanrede, wie in Besch' Tabelle formuliert, einen Rahmen von "Solidarität, Gruppenzugehörigkeit [und] Interessen- oder Meinungsübereinstimmung" hervor, einerseits interpersonal bezüglich des Gesprächspartners, andererseits in Bezug auf die gesamte Interaktion. Diese Praxis trägt zu dem Rahmen von Solidarität bei, der in Chat-Interaktionen auf vielerlei Arten inszeniert wird; man könnte sogar behaupten, dass sie eine Grundbedingung für das Vorherrschen dieses Rahmens ist.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann