Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Chronemische Kontextualisierungshinweise

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Neben den im Abschnitt Kontextualisierungshinweise besprochenen Möglichkeiten, diese Signale zu klassifizieren, besteht auch noch die Möglichkeit, sie nach ihrem Verhältnis zum Zeitfaktor einzuteilen: so könnte man von zeitabhängigen und zeitunabhängigen Kontextualisierungshinweisen sprechen. Gemeint ist damit, dass eine bestimmte Klasse von Kontextualisierungshinweisen, nämlich die, die in diesem Abschnitt als 'chronemisch' bezeichnet werden sollen – konkret Pausen und Überschneidungen – ihr Bedeutungspotenzial allein aus ihrem 'Timing' beziehen. Sie werden klassischerweise als Kontextualisierungshinweise auf der Ebene des Conversational Management angesehen; allerdings besitzen sie auch ein bedeutendes Kontextualisierungspotenzial auf der Rahmenebene – ob eine Antwort nach einer 'bedeutsamen Pause' erfolgt oder der Sprecher seinem Gesprächspartner damit 'ins Wort fällt', hat ohne Zweifel großen Einfluss auf die Interpretation dieser Antwort.

Nicht nur in der somatischen, auch in der computervermittelten Kommunikation hat die Zeitdimension Bedeutung als kommunikative Ressource. Im Kapitel "Time Matters" beschreibt Chenault (1997) den Ansatz von Walther & Tidwell (1995) :

[They] argue that CMC often conveys nonverbal cues in terms of chronemics, or "time-related messages.” ... They assert ... that time is an "intrinsic part” of our social interaction and that time messages in a communication event convey meaning "across multiple levels”[.]

Zwar bezieht sich diese Aussage auf E-Mail-Kommunikation, also asynchrone computervermittelte Kommunikation – wenn aber der Zeitfaktor wirklich so universelle Bedeutung hat und ein intrinsischer Bestandteil sozialer Interaktion ist, liegt die Vermutung nahe, dass er auch in IRC bedeutsam sein muss. Ja gerade Chat, eine synchrone Form von computervermittelter Kommunikation, die nahezu in Echtzeit vonstatten geht, müsste sich besonders für die Übertragung solcher metakommunikativen Botschaften mittels Chronemik eignen – möchte man meinen; denn tatsächlich machen die technischen Gegebenheiten einer solchen Absicht einen Strich durch die Rechnung. Wenn jemand in mündlicher oder auch anderen Formen von schriftlicher Kommunikation über einen gewissen Zeitraum (der natürlich von der Kommunikationsform abhängt) hinaus nicht antwortet, so führt das üblicherweise zu einer Inferenz, zum Beispiel, dass eine Verstimmung vorliegt. In IRC dagegen sieht die Sache anders aus. Die Autorin der "alt.irc IFAQ" – einer Liste von "Inordinately Frequently Asked Questions" über IRC – thematisiert und beantwortet genau diese Frage:

If someone on irc doesn't answer me, does that mean they are mad at me?

It may mean that, but more likely it means that they are
• lagged - experiencing delays in sending and receiving messages. You can check this by typing /ctcp <username> ping, if it takes more than 10 seconds to get a response, the user is lagged.
• idle - to check idle time type /whois <username> <username>. This queries the server of the person about whom you're requesting information for username, away message and idle time.
Yesowitch 1997: Frage 6

Es ist also sehr wahrscheinlich, dass Schweigen auf Seiten eines anderen Teilnehmers nicht in einem sozialen, sondern in einem natürlichen Rahmen zu interpretieren ist – entweder es besteht ein lag, ein Netzwerkproblem, das dazu führt, dass die Eingaben der betroffenen Nutzer stark verspätet oder gar nicht ankommen, oder der Nutzer befindet sich schlicht und einfach nicht vor seinem Bildschirm. Eine weitere Möglichkeit ist, dass der Betreffende gerade an einem längeren Beitrag schreibt, was in IRC nicht erkennbar ist (wohl aber in einem bestimmten Modus von ICQ). Pausen bzw. Schweigen sind daher in der Chat-Kommunikation ein wesentlich weniger starker Kontextualisierungshinweis als in somatischer Kommunikation. Die Bedeutung, die man ihnen beilegt, ist überdies abhängig davon, ob man dem/ der nun Schweigsamen eine konkrete Frage gestellt hat und wie intensiv er/ sie sich zuvor an der Interaktion beteiligt hat.

Eher von anderen Kommunikationsformen auf Chat übertragbar ist die Bedeutung des umgekehrten Falls – wenn jemand nämlich besonders schnell antwortet. Wie Bays in Bezug auf E-Mail formuliert:

The cues given by the time it takes to read, type and send a response or to have it posted are interpreted as urgency, involvement, system delays and/or lulls in the conversation.
Bays 1998: footnote 7

Es kann angenommen werden, dass Ähnliches auch in der Chat-Kommunikation gilt. Allerdings stellt sich hier ein forschungsmethodisches Problem im Hinblick auf die Datensammlung. Bedient man sich der einfachsten und auch von der Software vorgesehenen Methode, die Interaktion aufzuzeichnen, nämlich sie in Textform abzuspeichern, gehen diese chronemischen Hinweise verloren. Bays (1998: section 2) spricht dieses Problem an:

An individual (like a researcher) can save and print the exchanges, but ... one unfortunately sacrifices all of the meaningful cues that temporality (that is the time and rhythm of the postings) ... provides, such as pauses between responses and computer lag time.
Bays 1998: section 2

Mit komplexeren Methoden wie z.B. der Aufzeichnung aller Vorgänge auf dem Bildschirm in Form einer Videodatei könnten diese Faktoren zwar theoretisch erfasst werden; aus den oben angesprochenen Gründen jedoch scheint sich der Aufwand jedoch kaum zu lohnen. Es ist zweifellos zutreffend, dass chronemische Kontextualisierungshinweise in den meisten Interaktionstypen eine sehr wichtige Rolle spielen; in IRC zählen sie aber sicherlich zu den weniger salienten Punkten. Auch im Rahmen der vorliegenden Untersuchung wurde daher aus Gründen der Effizienz auf die Aufzeichnung und Einbeziehung dieser cues verzichtet.

Überlappungen und Unterbrechungen

Einen Sonderfall von zeitabhängigen Gesprächselementen bilden Überlappungen und Unterbrechungen, die in Face-to-Face-Kommunikation als competitive bzw. collaborative overlap (vgl. Tannen 1984 ) viel zur Rahmung einer Situation beitragen und damit auch als Kontextualisierungshinweis angesehen werden können. In der Chat-Kommunikation dagegen sind Überlappungen und Unterbrechungen im üblichen Sinne aufgrund der technischen Rahmenbedingungen gar nicht möglich – abgesehen von einem bestimmten Modus im Instant-Messaging-Programm ICQ werden die Beiträge jedes Teilnehmers erst dann für die anderen Interaktanten sichtbar, wenn er sie zu Ende getippt und mit Enter abgeschickt hat. Definiert man 'Überlappung' über die zeitgleiche Produktion von Sprache innerhalb einer Interaktion, so muss man davon ausgehen, dass es in IRC faktisch andauernd zu Überlappungen kommt, wie Bader (2002: 70) anmerkt:

Überlappungen, die in gesprochener Sprache auftreten, sind im Chat zunächst nicht möglich, da die Technik dies verhindert. Mit der Annahme, dass die Sprecher permanent Äußerungen produzieren und abschicken, finden dennoch Überlappungen statt, die lediglich nicht graphisch markiert sind.

In jeder Interaktion in einem IRC-Kanal, an der eine gewisse Mindestanzahl an Kommunikanten teilnimmt, werden also zu jedem beliebigen Zeitpunkt mindestens zwei Personen gleichzeitig an ihren Äußerungen feilen – unter Umständen Tausende Kilometer voneinander getrennt und sich der Produktionstätigkeit eines anderen Nutzers nicht im Geringsten bewusst. Diese Tatsache ist interaktional sehr wohl relevant, da sie eine ganz eigene Gesprächsstruktur bedingt, die für (asynchrone) computervermittelte Kommunikation typisch ist: nämlich die Möglichkeit, Themen nicht sequenziell, sondern parallel abzuhandeln. Wenn zwei oder mehr Kommunikanten gleichzeitig Äußerungen tätigen, hat das also durchaus Auswirkungen auf den Verlauf der Interaktion; Überlappungen oder Unterbrechungen im eigentlichen Sinn spielen in diesem Zusammenhang aber keine Rolle mehr. Und auch wenn ein Teilnehmer beabsichtigt, einen anderen zu unterbrechen bzw. nicht abzuwarten, ob dieser seinen Turn bereits beendet hat, so ist es doch unmöglich, festzustellen, ob dieses Verhalten intentional erfolgt ist oder nicht. Empfängerseitig kann es also kaum eine Inferenz hervorrufen; bei Überlappungen und Unterbrechungen handelt es sich daher in IRC nur um einen sehr schwachen Kontextualisierungshinweis.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann