Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Kontextualisierungshinweise

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Funktion

Das Konzept der Kontextualisierungshinweise, erstmals eingeführt 1976 von Jenny Cook-Gumperz und John J. Gumperz , ist einer der zentralen Bausteine in Gumperz' Kontextualisierungstheorie. Schmitt (1993: 327) fasst diese Theorie wie folgt zusammen:

Die zentralen Annahmen des Kontextualisierungskonzeptes lassen sich kurz wie folgt beschreiben: Sprecher und Hörer benutzen bestimmte Zeichen (Kontextualisierungshinweise), um auf das für die angemessene Interpretation ihrer Aktivitäten relevante Hintergrundwissen zu verweisen. Erst dann, wenn die aktuelle Verhaltensweise vor dem Hintergrund dieses relevanten Hintergrundwissens gesehen wird, erhält sie ihre spezifische soziale Bedeutung. Sprecher und Hörer signalisieren sich also die für die Interpretation ihres Verhaltens relevanten Kontexte.

Kontextualisierungshinweise sind also Zeichen (ihre Form wird weiter unten diskutiert), die es – grob gesprochen – dem Produzenten erlauben, seine kommunikativen Absichten zu signalisieren, indem sie beim Rezipienten einen Interpretationsprozess (kommunikative Inferenz) in Gang setzen. Durch diesen Schlussfolgerungsprozess wird ermittelt, welches der angemessene Rahmen ist, in dem der Produzent seine Aktivitäten vermutlich interpretiert haben möchte – der Rahmen beeinflusst dann die Interpretation jeder einzelnen Äußerung. Ein Beispiel: eine Sprecherin signalisiert einem Hörer durch bestimmte Kontextualisierungshinweise (Lächeln, bestimmte Intonationsmuster,...) einen freundschaftlichen Rahmen. Der Hörer interpretiert dann die solcherart kontextualisierten Äußerungen dementsprechend als freundschaftlich, selbst wenn ihr propositionaler Gehalt anderes vermuten ließe.

Wie im Abschnitt Kontextualisierung ausgeführt, können Kontextualisierungsprozesse auf drei Ebenen wirksam werden:

  1. Ebene des konversationellen Managements
  2. Sprechaktebene
  3. Rahmenebene

Kontextualisierungshinweise können daher die Interpretation einer Äußerung auf diesen drei Ebenen beeinflussen – also etwa: hat der Sprecher seinen Beitrag schon abgeschlossen oder wird er noch etwas hinzufügen (1. Ebene); handelt es sich (beispielsweise) um eine Frage oder eine Aufforderung und wie sollte angemessen reagiert werden (2. Ebene); und schließlich: was bezweckt der Sprecher mit dieser Äußerung und wie ist seine Einstellung zum Gesagten, zur Situation und den anderen Beteiligten (3. Ebene)? All diese Faktoren werden in jeder Interaktion ständig und routinemäßig unter Rückgriff auf Erwartungsstrukturen geklärt. Dass es dabei auch Irrtümer geben kann, steht natürlich außer Frage.

Form

Bezüglich der Form der Kontextualisierungshinweise muss zwischen zwei Konzeptionen der Kontextualisierungstheorie unterschieden werden. Während in der weit gefassten Form sämtliche Zeichen, die in irgendeiner Weise auf für die Interaktion relevantes Hintergrundwissen verweisen, als Kontextualisierungshinweise gelten können, schränkt die enge Form der Theorie aus praktischen Gründen diese ungeheure Menge an möglichen Kontextualisierungshinweisen ein:

"Contextualization cues” are, generally speaking, all the form-related means by which participants contextualize language. Given the general notion of a flexible and reflexive context ... , it is clear that any verbal and a great number of non-verbal (gestural etc.) signantia can serve this purpose. There is therefore no a priori restriction to the class of contextualization cues. However, contextualization research has restricted this class for practical reasons ... to the class of non-referential, non-lexical contextualization cues, most notably: prosody, gesture/posture, gaze, backchannels, and linguistic variation (including "speech styles”).
Auer 1992: 24 [Hervorhebung im Original]

Auer schließt also nur nicht-referentielle und nicht-lexikalische Zeichen in seine Definition von Kontextualisierungshinweise ein. Zwei große Klassen von Möglichkeiten, auf Kontext zu verweisen, fallen nach dieser strengeren Definition nicht in den Aufgabenbereich der Kontextualisierungsforschung: Zum einen

all explicit formulations if context ... i.e. prospective or retrospective statements by participants about what is going to happen or has happened.
ibid.

Ausgeschlossen wird auch

the class of deictics which certainly serve a contextualizing function in that they locate language in time and space, and therefore construe the environment ... in which interaction takes place.
ibid.

Explizite Ausformulierungen von Rahmungen und Deiktika sind also keine Kontextualisierungshinweise im engeren Sinn. Was aber wären dann 'klassische' Kontextualisierungshinweise? Selting (1995: 19) nennt folgende wichtigen Klassen von Signalen:

Typische Kontextualisierungshinweise in der Face-to-Face-Kommunikation sind also z.B. Elemente aus dem Bereich Gestik und Mimik, prosodische Phänomene und Code-Switching. In der vorliegenden Arbeit werden die im Material auftretenden Typen von Kontextualisierungshinweisen primär nach ihrer Form und sekundär gemäß der Ebene, auf der sie primär oder teilweise wirksam werden, klassifiziert.

Eigenschaften

1. Kontextualisierungshinweise sind konventionell und kulturspezifisch.

Gumperz betont immer wieder, dass

our knowledge and use of contextualization cues is a function of shared interactive history and rests on socially based presuppositions...
Gumperz 1992a: 50

Gebrauchsweisen und Funktionen von Kontextualisierungshinweisen können daher zwischen einzelnen Kulturkreisen, Sprachgemeinschaften, regionalen und sozialen Varietäten derselben Sprache und sogar Mikrokulturen, Familien und Freundeskreisen voneinander abweichen.

Dass es bei (im weitesten Sinne) interkulturellen Kontakten aufgrund unterschiedlicher Kontextualisierungskonventionen zu Missverständnissen kommen kann, ist daher nur zu erwarten. Da es sich bei Kontextualisierungshinweisen aber zum Großteil um ausgesprochen unscheinbare und vor allem unbewusst angewandte Signale handelt, werden die Gründe für diese Missverständnisse in der Interaktionspraxis nur höchst selten erkannt. Vermutlich spielen sie eine nicht unwesentliche Rolle bei der Entstehung nationaler und ethnischer Stereotypen und Vorurteile. Gumperz selbst, der sich viel mit interkultureller Kommunikation beschäftigt, bringt etwa das Beispiel eines westindischen Busfahrers in London, dessen wiederholte Aufforderung an die Fahrgäste, doch bitte passend zu bezahlen, von diesen als grob, ja drohend empfunden wurde (vgl. Gumperz 1982: 168 ). Gumperz geht davon aus, dass die spezifische prosodische Ausgestaltung, die der westindische Fahrer seiner Bitte gemäß seiner gewohnten Kontextualisierungskonventionen verlieh (deutliche Betonung von please), nichts anderes als Höflichkeit transportieren sollte. In 'genuin-britischen' Kontextualisierungskonventionen jedoch signalisiert dieser spezifische Kontextualisierungshinweis extreme Direktheit. Da die Aussage des Chauffeurs von den Londoner Fahrgästen aufgrund ihrer intrakulturellen Interaktionserfahrung beurteilt wurde, wirkte sie für sie viel zu schroff für den gegebenen Anlass, was einen der Fahrgäste zu der verärgerten Bemerkung veranlasste: "Why do these people have to be so rude and threatening about it?" (ibid. ).

Schmitt (1993: 349f.) gibt zu bedenken, dass diese Einschätzung durch bereits bestehende Schemata bzw. Vorurteile vom Typ "Ausländer sind unhöflich" wenn schon nicht hervorgerufen, so doch bestärkt worden sein könnte. Schon die generalisierende Ausdrucksweise "these people" weist nach Schmitt darauf hin, dass der Fahrer "von vorneherein nicht als Individuum, sondern als Ausländer charakterisiert" wird (Schmitt 1993: 349 ). Relevant wäre in diesem Fall nicht die Interaktionserfahrung des Fahrgastes für den "englisch-englischen Kontakt", sondern jene für den "englisch-ausländischen Kontakt" (Schmitt 1993: 350 ). Dem ist sicherlich zuzustimmen. Allerdings muss auch die Entstehungsweise derartiger Vorurteile in die Überlegung mit einbezogen werden, denn diese gehen sicherlich zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Konfrontationen unterschiedlicher Kontextualisierungskonventionen zurück. Daher sind die interaktiven Erfahrungen des Fahrgastes im englisch-englischen Kontakt als die Folie, vor der das kommunikative Verhalten des Ausländers beurteilt wird, sehr wohl relevant.

2. Kontextualisierungshinweise besitzen keine stabile, kontextunabhängige Bedeutung.

The linguistic character of contextualization cues is such that they are uninterpretable apart from concrete situations. In contrast to words or segmental morphemes which, although ultimately also context-bound, can at least be discussed in isolation, listed in dictionaries and explained in grammars, contextualization phenomena are impossible to describe in abstract terms.
Gumperz 1982: 170

In anderen Worten: es ist nicht möglich, einem Kontextualisierungshinweis eine stabile, kontextunabhängige Bedeutung zuzuordnen. Kontextualisierungshinweise können nicht aufgelistet, definiert, ihr Gebrauch in allgemein gültigen Regeltabellen zusammengefasst und – etwa im Fremdsprechunterricht – auswendig gelernt werden. Kontextualisierungsphänomene sind per definitionem mehrdeutig; welche Funktion sie erfüllen, ist immer nur in der konkreten Situation ihres Auftretens eindeutig bestimmbar.

Allerdings gibt es auch hier Abstufungen. Auer (1992: 31f.) unterscheidet rein "oppositive contextualization cues" von solchen mit einem "inherent... meaning potential". Gemeint ist hier, dass in manchen Fällen schon die bloße Tatsache, dass eine Veränderung stattgefunden hat, ausreichen kann, um eine Inferenz hervorzurufen, die meisten Kontextualisierungshinweise jedoch die Interpretation immerhin in eine bestimmte Richtung lenken können.

Gut illustriert wird dieses Konzept in der im Abschnitt Kontextualisierung beschriebenen Musik-Metapher von Auer (1992: 1ff.) : in Bachs Matthäuspassion signalisiert ein plötzlicher Harmoniewechsel in die naiv-klare Tonart C-Dur den Spott und Hohn, den die Hohepriester dem gekreuzigten Christus entgegenbringen. Diese Strategie hat, ebenso wie die meisten nicht-musikalischen Kontextualisierungshinweise, zwei Effekte:

  1. Der erste Faktor, die Veränderung an sich, zieht Aufmerksamkeit auf die betreffende Passage und weist dadurch darauf hin, dass sie anders zu interpretieren ist als das umgebende Material.

  2. Der zweite Punkt, die mit der Art des Wechsels verbundenen Assoziationen, leiten die Interpretation in eine bestimmte Richtung.
    (vgl. Abschnitt Kontextualisierung)

Für rein oppositive Kontextualisierungshinweise gilt nur Punkt eins, für solche mit inherent meaning potential gelten beide Punkte. Die Funktionsweise der ersten Klasse von Kontextualisierungshinweisen vergleicht Levinson (1997: 27) mit der eines Knoten im Taschentuch – dieser "conventional reminder ... cannot be said to encode or directly invoke the interpretative background, it's simply a nudge to the inferential process". Nach einem ganz ähnlichen Prinzip funktioniert z.B. die Lichthupe beim Autofahren. Auch diese besitzt keine eigene, stabile Bedeutung, sondern dient nur dazu, die Aufmerksamkeit des Entgegenkommenden auf seine Umgebung zu lenken – ob das nun sein eigenes immer noch aufgeblendetes Fernlicht ist, eine Radarfalle hinter der nächsten Kurve oder die vergessene Reisetasche auf dem Autodach. Die zweite Gruppe besitzt zusätzlich zur aufmerksamkeitserregenden Funktion auch ein kulturspezifisches Bedeutungspotenzial, das den durch Punkt eins beim Empfänger ausgelösten Inferenzprozess leitet.

Beispiele aus der Face-to-Face-Kommunikation finden sich etwa bei Auer (1992) , der ein Gespräch zwischen zwei bilingualen Kindern, Mariella und Guido, analysiert. Mariella erzählt einen Witz und schaukelt dabei auf ihrem Sessel – als diese spezifische Sprechaktivität beendet wird (bzw. Mariella die Rolle der Erzählenden aufgibt) und stattdessen ein Konflikt um den conversational floor ausbricht, hört das Schaukeln abrupt auf (vgl. Auer 1992: 14ff., 31 ). Wichtig für die Kontextualisierung ist hier vor allem die Änderung im bipolaren, sozusagen 'digitalen' Schaukelstatus: da Mariella während des Witzeerzählens ständig geschaukelt hat, hat sie, will sie dieses kinetische Element zur Kontextualisierung einsetzen, gar keine andere Möglichkeit als die, nun damit aufzuhören. Die Richtung dieser Veränderung (schaukeln --> nicht schaukeln oder umgekehrt) hat keinen wesentlichen Einfluss auf die Auswirkung der Strategie: hätte sie während des Witzeerzählens nicht geschaukelt und mit dem Beginn der folgenden Aktivität plötzlich damit angefangen, wäre der Effekt sehr ähnlich gewesen – die plötzliche Veränderung zieht die Aufmerksamkeit des Interaktanten auf sich und löst einen Inferenzprozess aus. Die meisten anderen Kontextualisierungshinweise (sowohl in Auers Protokoll wie auch in der vorliegenden Arbeit) fallen dagegen in die zweite Gruppe. So ist es z.B. für den kommunikativen Effekt sehr wohl relevant, ob von leiser zu lauter Stimme gewechselt wird oder umgekehrt, oder ob die Intonation steigend oder fallend realisiert wird. Diese Formen von Kontextualisierungshinweisen besitzen also sehr wohl ein inhärentes Bedeutungspotenzial.

3. Kontextualisierungshinweise werden immer redundant eingesetzt.

Auers phonetisch nicht unattraktiver Titel "Redundancy of coding and co-occurrence of cues" (1992: 29 ) beschreibt eine weitere bedeutende Eigenschaft von Kontextualisierungshinweisen. In den Worten von Schmitt (1993: 335f.) :

Das Signalisieren solcher Hinweise ist immer redundant organisiert. Dies bedeutet, es gibt immer mehrere, auf unterschiedlichen Ebenen wirksame Hinweise auf relevante Kontexte. Diese Redundanz der Kontextualisierungshinweise ist konventionalisiert, und es existieren kulturspezifische Kookkurenzeinschätzungen hinsichtlich des gemeinsamen Auftretens verschiedener Zeichen. Gumperz geht davon aus, daß die Interpretationen der Teilnehmer auf solchen empirisch nachweisbaren Hinweisen beruhen und daß Wahrnehmungen aufgrund simultaner Informationsverarbeitung auf verschiedenen Ebenen in die Inferenz als Kookkurenzeinschätzungen eingehen.

Kontextualisierungshinweise treten also in Face-to-Face-Kommunikation niemals alleine auf. Die Inferenz, die der Gesprächspartner zieht, basiert immer auf dem Zusammenwirken mehrerer Kontextualisierungshinweise. Auer (1992: 29f.) unterscheidet zwei mögliche Formen dieser Synchronisation: zum einen ein "abrupt co-occurring change of cues on various levels" und zum anderen der "cumulative use of cues” nacheinander, die die Interpretation in die gleiche Richtung leiten (ibid.: 30) . Als Beispiel für den ersten Fall führt er etwa eine Äußerung Mariellas an, mit der sie ihre Rolle als Witz-Erzählerin wieder aufnehmen möchte und im Zuge derer auf den Ebenen Prosodie, Gestik, Blickrichtung und Körperhaltung gleichzeitig eine Änderung eintritt (ibid.: 29) . Auch kumulativer Gebrauch von Kontextualisierungshinweisen findet sich in der Guido-/Mariella-Episode, so etwa in der Phase, in der der Konflikt um das Rederecht ausgetragen wird: mehrere hintereinander eingesetzte 'angriffslustige' Gesten und prosodische Phänomene stützen die Interpretation von Mariellas Verhalten. Der Inferenzprozess wird durch diese Redundanzen erleichtert und die kommunikative Intention des Produzenten desambiguiert.

4. Kontextualisierungshinweise sind häufig multifunktional.

Ein und derselbe Kontextualisierungshinweis führt oft zu Inferenzen auf mehreren Ebenen. Auer (1992: 34) nennt beispielsweise institutionelle Kommunikation wie die prototypische Arzt-Patienten-Interaktion, in der durch dieselben Kontextualisierungsverfahren nicht nur die sozialen Rollen der Beteiligten (Arzt – Patient) inszeniert werden, sondern auch der mit ihnen verknüpfte Typus der Gesprächsorganisation (z.B. eingeschränkte Themenwahl; Selbstwahl durch den Patienten stark eingeschränkt: Arzt fragt, Patient antwortet). Auch im vorliegenden Material werden Kontextualisierungshinweise häufig auf mehreren Ebenen, meistens der Sprechaktebene und der Rahmenebene, gleichzeitig wirksam. Aus diesem Grund werden die beobachteten Typen von Kontextualisierungshinweisen in der vorliegenden Arbeit primär nach ihrer Form und erst in zweiter Linie nach ihrer Funktion behandelt.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann