Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Kontext in IRC

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Es ist unbestreitbar, dass die medialen Rahmenbedingungen für Chat-Kommunikation mit jenen der Face-to-Face-Kommunikation kaum vergleichbar sind. Kommunikation über IRC findet über teils große Entfernungen ohne Ko-Präsenz der Gesprächspartner statt, vermittelt über ein Computersystem, medial schriftlich und mit einem Symbolinventar, das (in ihrer einfachsten Form) auf den ASCII-Zeichensatz beschränkt ist. Diese Unterschiede bedingen ganz offensichtlich, dass jeder Kontextbegriff für die Chat-Kommunikation gänzlich anders gefasst sein muss als einer, der für somatische Kommunikation gilt. Oder doch nicht?

Tatsächlich müssten wir in einem traditionellen Kontextmodell, das zwischen "external" bzw. "distal context" sowie "intra-interactional" bzw. "proximate context" unterscheidet (Schegloff 1992: 195 ), für die Interaktionswirklichkeit des Chat sicherlich ganz andere Prioritäten setzen, wodurch nicht zuletzt die Vergleichbarkeit von Erkenntnissen über die Chat- und Face-to-Face-Kommunikation stark eingeschränkt würde. Geht man aber vom Kontextbegriff der Kontextualisierungsforschung aus, wird diese Schwierigkeit irrelevant, denn hier werden als Kontext ausschließlich kognitive Rahmen berücksichtigt. Das bedeutet, dass bei jeder Interaktion Umgebungsfaktoren nur dann in die Analyse einbezogen werden, wenn sie von den Teilnehmern selbst durch Kontextualisierungsverfahren als Rahmenelemente relevant gemacht werden – und das gilt eben für Kommunikation in einem Chatroom ganz genauso wie für Kommunikation in einem Autobus oder einer Cafeteria.

Das soll nicht heißen, dass der Einfluss der medialen Charakteristika der Chat-Kommunikation auf gewisse Aspekte der Sprachverwendung bestritten werden soll. Selbstverständlich ist es in Face-to-Face-Kommunikation weder machbar noch notwendig, beim Verlassen einer Interaktion gleichsam einen Avatar seiner selbst zu hinterlassen, an dem der Grund der Abwesenheit abgelesen werden kann, so wie in Chats der eigene Nickname mit einem entsprechenden Prädikat versehen wird (NickName_schlafen). Diese Praxis ist die Folge der medialen Rahmenbedingungen, nämlich der Tatsache, dass es im Chat nicht ersichtlich ist, wenn ein Teilnehmer seinen Terminal verlässt. Es handelt sich nur um einen Perspektivenwechsel: beschrieben werden eben nicht die 'objektiv vorhandenen' Umgebungsfaktoren, die das nötig machen, sondern die Funktionsweise der Mechanismen, die von den Teilnehmern selbst eingesetzt werden, um das Geschehen zu rahmen und gewisse Aspekte relevant zu machen.

Wie aber steht es mit der Tatsache, dass im Rahmen der Chat-Interaktion die physische Umgebung und auch die Charakteristika der Teilnehmer erstmals völlig frei geschaffen werden können? Dies würde nahe legen, dass der Kontextbegriff für IRC wesentlich lockerer gefasst sein muss.

Wie generell in der Sichtweise der Kontextualisierungsforschung kann man auch für den Chat davon ausgehen, dass die Teilnehmer den interaktiven Kontext bis zu einem gewissen Grad selbst schaffen, und das natürlich möglichst in ihrem Sinne. In den Worten von Goodwin & Duranti (1992: 6 [Hervorhebung A.S.]) :

[I]ndividual participants can actively attempt to shape context in ways that further their own interests.

Aber – und dieses Zitat bezieht sich wohlgemerkt auf Face-to-Face-Interaktion –:

This does not mean that context is created from scratch within the interaction so that larger cultural and social patterns in a society can be ignored. Instead, ... even those participants who are strategically rearranging context to further their own goals invoke organizational patterns that have an existence that extends far beyond the local encounter.

Diese "organizational patterns”, die "far beyond the local encounter” bestehen, sind nichts anderes als kulturspezifische Rahmen, die von (den meisten) Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilt werden. In Face-to-Face-Interaktion gilt ganz genauso wie in der Chat-Kommunikation, dass die Teilnehmer an einer Interaktion Erwartungsstrukturen kontextualisieren, d.h. durch Kontextualisierungshinweise relevant und als Interpretationshintergrund für das aktuelle Geschehen zugänglich machen.

Will man das Konzept 'Kontext in IRC' im begrifflichen Rahmen von Auers Dichotomie "brought about" und "brought along" (Auer 1992: 26f., detailliert beschrieben im Abschnitt Kontext in der Kontextualisierungsforschung) betrachten, so fallen zwei Hauptaspekte ins Auge.

  • Zum einen verschieben sich in der Chat-Kommunikation einige jener Faktoren, die für Face-to-Face-Interaktion dem Pol "brought along" angehören, zusehends in Richtung des Pols "brought about". So werden etwa physische Umgebung und äußerliche Charakteristika der handelnden Personen in der Realität des Chat nur durch diskursive Mittel geschaffen. Sie bestehen also nur aus Rahmen(-elementen) ohne (wahrnehmbares) Pendant in der wirklichen Welt (vgl. Rahmen und Kontext bei Goffman und in der Kontextualisierungsforschung).
  • Dafür rücken aber Faktoren in die Kategorie "brought along" nach, die sehr wohl den Status der extrainteraktionalen Realität besitzen, in der Face-to-Face-Interaktion aber keine Entsprechung haben. Der "brought along"-Pol wird in der Chat-Interaktion wie in jeder Kommunikationsform bestimmt von den medialen Rahmenbedingungen, die in IRC allerdings (wie erwähnt) stark von jenen der somatischen Kommunikation abweichen. Also können zu dieser Kategorie jene technisch bedingten Aspekte des Chattens gezählt werden, die das Kommunikationsverhalten maßgeblich beeinflussen – z.B. dass man sich zum Beginnen und Beenden der Kommunikation ein- und ausloggen muss, von anderen unbemerkt flüstern, vom Channel Operator gekickt oder durch einen 'Freiflug' unversehens aus der Interaktion befördert werden kann.

Es gibt also auch in der formbaren Realität des Chat ein Set von externen Faktoren, die in die Interaktion 'mitgebracht' werden. Auch diese müssen aber wie alle kontextuellen Faktoren erst interaktional relevant gemacht werden, um beim Gesprächspartner als Hintergrundinformation für die Interpretation meiner Aussage voraussetzbar zu sein. Dasselbe gilt für jene Elemente, in denen sich die Flexibilität der Chat-Wirklichkeit erweist, nämlich jene, die in somatischer Kommunikation in die Kategorie "brought along" fallen – wie etwa die physische Umgebung der Interaktion.

An dieser Stelle müssen wir einen Blick auf den Vorgang des Rahmungsprozesses werfen. Wir haben festgestellt, dass Rahmenelemente und Elemente der 'wirklichen Welt' miteinander korrespondieren. Nehmen wir nun als – erfundenes – Beispiel das Sofa x an, das in der 'wirklichen Welt' W eine tatsächliche physische Existenz besitzt. Ist nun das Vorhandensein eines Sofas für eine Interaktion relevant, wird einer der Teilnehmer das Sofa x hervorheben und damit bei seinem Gesprächspartner das Abrufen des Rahmens R erleichtern, da in diesem unter anderem ein Sofa x' eine Rolle spielt.

Was aber, wenn 'objektiv' gar kein Sofa vorhanden ist, sondern dieses nur durch sprachliche Mittel als Bestandteil der physischen Umgebung eingeführt worden ist? Was, wenn NickName in einer Chat-Interaktion tippt

/me setzt sich aufs Sofa

- wenn weder im Wohnzimmer des Tippenden noch im ja nur rein virtuell existierenden Chat-Raum ein solches vorhanden ist?

Die Vermutung, die in dieser Arbeit verfolgt werden soll, ist, dass das für die Funktionsweise von Kontextualisierung und Rahmungen keinerlei Unterschied macht. Als Kontext für eine Äußerung relevant ist, wie wir im Abschnitt Kontext in der Kontextualisierungsforschung sehen, ausschließlich der Rahmen, in dem sie interpretiert werden soll, und ein Rahmen kann durch ein imaginäres Sofa, das nur erwähnt worden ist, genauso in den kognitiven Vordergrund gebracht werden wie durch ein sehr reales.


Ein Rahmenelement mit einem real existierenden Pendant in der 'wirklichen Welt'

Nichts anderes geschieht täglich in jeder Sprechaktivität, in der von nicht anwesenden Menschen und Gegenständen und nicht zuletzt Abstrakta die Rede ist: rassistische Vorurteile, Osterhasen und die Dreifaltigkeit haben – wie im Abschnitt Rahmen und Kontext bei Goffman und in der Kontextualisierungsforschung ausgeführt – genauso wenig reale Substanz wie ein Sofa in einer Chat-Pretend-Play-Sequenz, existieren als Rahmen(-elemente) aber sehr wohl, und das mit zum Teil äußerst realen Konsequenzen.


Rahmenelemente mit nicht real existierenden Pendants in der 'wirklichen Welt'

Wir kommen also zu dem Schluss, dass die tatsächliche Existenz eines Elements kein Kriterium für sein Auftreten in einem Rahmungsprozess ist. In jedem Fall muss es erst durch Kontextualisierungshinweise hervorgehoben werden, damit es als Folie für die Interpretation der Interaktion vorausgesetzt werden kann und somit Kontext für eine Äußerung ist. Solche Strategien "upgrade old information to given information; thereby they construe context” (Auer 1992: 23 ). Während in Face-to-Face-Kommunikation der allen zugängliche 'external context', d.h. physische Charakteristika der Umgebung usw., "old information” ist, gibt es diese Informationen in Chat-Interaktionen nicht. Derartige "old information" ist, wenn sie im Chat zu "given information" wird, für die anderen Teilnehmer in keiner Weise überprüfbar, und so kommt es zu der scheinbar paradoxen Situation, dass in dieser Kommunikationsumgebung das voraussetzbare Spektrum an "old information" nur durch die Vorstellungskraft der Teilnehmer beschränkt wird. Gewissermaßen kann man sagen, dass jegliches beliebige vorstellbare Objekt, von der Railgun bis zur Schokoladentafel und vom Feuerzeug bis zur Stange Dynamit, zum potentiellen Inventar eines Chatrooms gehört.

Vielleicht ist es genau dieser Effekt, der für die fließenden Übergänge verantwortlich ist, die in vielen Chat-Interaktionen zwischen der Beschreibung der Offline-Wirklichkeit und Pretend Play bestehen. Ob die in der Interaktion inszenierten Rahmenelemente nun ein Pendant in der 'wirklichen Welt' besitzen oder nicht, ob die Teilnehmerin, die nach eigenem Bekunden gerade einen Teller Sauerkraut verzehrt, das wirklich in diesem Augenblick tut oder vor fünf Minuten getan hat oder irgendwann einmal oder noch nie in ihrem Leben (oder ob es sich womöglich um Rotkraut handelt), ist innerhalb der Interaktionswirklichkeit des Chat nicht nachprüfbar und eher nebensächlich. Was zählt, ist vielmehr die Tatsache, dass sie sich entschieden hat, zu diesem bestimmten Zeitpunkt diese konkrete Aussage zu machen. Und oft genug verschwimmen die Grenzen völlig, wie in einer ausgedehnten Pretend-Play-Sequenz in meinen Daten, in der ein Teilnehmer behauptet, er spiele (in Wirklichkeit?) mit seinem Feuerzeug und einer Teilnehmerin anbietet, es sich ansehen zu kommen (in Wirklichkeit, denn im Chatroom befinden sich die beiden ja 'gemeinsam' ) – wenige Turns später 'konfisziert' eine andere Teilnehmerin das Corpus Delicti (in der Chat-Realität) und 'legt es in den Safe', woraufhin der Besitzer mit (virtuellen, aber doch gewissermaßen existenten) ASCII-'Rosen' ihre Gunst und sein (virtuelles?) Feuerzeug wiederzuerlangen versucht. Aufgrund dieser Unwägbarkeiten, die zu einem großen Teil den Reiz der Chatkommunikation ausmachen, soll in der vorliegenden Arbeit auf Spekulationen bezüglich des Realitätsgehalts der Aussagen der Teilnehmer verzichtet werden.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann