Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
Kontextualisierung und Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium |
Das von Gumperz formulierte Konzept der
Kontextualisierungshinweise wurde
ursprünglich ausschließlich für den Bereich der Face-to-Face-Interaktion
eingeführt. Allerdings erscheint eine Ausweitung der Theorie auf medial
vermittelte Kommunikation "both useful and legitimate" (Androutsopoulos 1998:
section 6
Sprecher und Hörer benutzen bestimmte Zeichen
(Kontextualisierungshinweise), um auf das für die angemessene Interpretation
ihrer Aktivitäten relevante Hintergrundwissen zu verweisen. Erst dann, wenn die
aktuelle Verhaltensweise vor dem Hintergrund dieses relevanten
Hintergrundwissens gesehen wird, erhält sie ihre spezifische soziale Bedeutung.
Sprecher und Hörer signalisieren sich also die für die Interpretation ihres
Verhaltens relevanten Kontexte. Jede Form von menschlicher Kommunikation, also auch über das schriftliche
Medium, erfordert mindestens einen Produzenten, der unter Rückgriff auf sein
spezifisches Hintergrundwissen eine Mitteilung produziert, und mindestens einen
Rezipienten, der diese Mitteilung wiederum unter Rückgriff auf sein spezifisches
Hintergrundwissen dekodiert. Warum sollte es nicht auch in schriftlicher
Kommunikation grundsätzlich möglich sein, mittels gewisser Signale "auf das für
die angemessene Interpretation ihrer Aktivitäten relevante Hintergrundwissen zu
verweisen" (ibid.
Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall
jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen,
für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem
nicht. Und wird sie beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn
selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande. Selbstverständlich wirft die Frage der Übertragbarkeit eines Konzepts von
somatischer auf schriftliche Kommunikation viele Fragen zum Verhältnis von
Mündlichkeit und Schriftlichkeit allgemein auf. Vielleicht ist auch das der
Grund dafür, dass es bis jetzt nur sehr wenige Arbeiten gibt, in denen medial
schriftliche Texte vom Standpunkt der Kontextualisierungsforschung oder
zumindest unter Rückgriff auf Konzepte aus dieser Forschungsrichtung untersucht
worden sind. Darunter sind die Werke von Georgakopoulou (1997)
ÜberlegungenHintergrundwissenEiner der wichtigsten Faktoren in Bezug auf Funktion und Auftreten von
Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium ist sicherlich das geteilte
Hintergrundwissen. Da Kontextualisierungshinweise stark kulturspezifisch sind
und nur dann funktionieren, wenn Produzent und Rezipient über eine gewisse Menge
an gemeinsamem Hintergrundwissen verfügen, ist anzunehmen, dass in Textsorten,
in denen der Autor seinen potenziellen Leserkreis nur wenig einschätzen kann,
andere Methoden die Funktion der Kontextualisierungshinweise übernehmen. In
einem Brief an einen guten Freund sind daher mehr Kontextualisierungsverfahren
zu erwarten als in einem Geschäftsbrief, und in einer Zeitschrift mit einer
kleinen, verschworenen Lesergemeinde (wie die von Androutsopoulos (1998)
Personenorientiert vs. sachorientiertKontextualisierungshinweise werden eingesetzt, um etwas über die kommunikative Intention des Produzenten auszusagen. Daher kann vermutet werden, dass in personenorientierten Texten mehr Kontextualisierungshinweise eingesetzt werden als in sachorientierten. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Subjektivität in unserer Kultur in vielen sachorientierten Textsorten stark tabuisiert ist. Besonders in wissenschaftlichen Texten soll der Autor tunlichst vermeiden, seine Persönlichkeit und seine kommunikativen Intentionen aus dem Text erkennbar werden zu lassen. Während ein Text wie das folgende Abstract akzeptabel ist: Um die klinische Interpretation von IQ-, Index- und
Subtestwerten im HAWIK-III zu erleichtern, werden Tabellen mit kritischen Werten
für paarweise und ipsative Vergleiche der IQ- und Indexwerte sowie mit 68%- und
90%-Konfidenzintervallen für die Untertests bereitgestellt. Im Gegensatz zum
HAWIK-III Manual wurden die kritischen Werte für paarweise Skalenvergleiche
mittels Bonferroni-Adjustierung für multiple Prüfungen berechnet. wäre er das in der folgenden Fassung nicht, obwohl er so sogar mehr Information enthält: * also, es geht darum: ich wollte die klinische interpretation von iq-, index- und subtestwerten im HAWIK-III erleichtern. deshalb habe ich *TABELLEN* mit kritischen werten für paarweise und ipsative vergleiche der iq- und indexwerte und mit 68%- und 90%-konfidenzintervallen für die untertests bereitgestellt... und weißt du was, im gegensatz zum hawik-III manual hab ich die kritischen werte für *PAARWEISE SKALENVERGLEICHE* mittels bonferroni-adjustierung für multiple prüfungen berechnet!!! ganz schön schlau, was? lies unbedingt weiter, das ist wirklich wahnsinnig interessant! In dieser Form ruft der Text beim Adressaten vollkommen unpassende Rahmungen
hervor. Die Wahl des familiären Anredepronomens, 'expressiver' bzw. 'kreativer'
Umgang mit Satzzeichen und Formatierung und rhetorische Mittel wie eine direkte
Anrede des (gedachten) Rezipienten könnten als Kontextualisierungshinweise für
einen persönlichen, freundschaftlichen Rahmen und eine Hervorhebung der
Individualität des Autors angesehen werden, was mit dem Kriterium der objektiven
Distanz, wie es in der westlichen Kultur für wissenschaftliche Texte gefordert
ist, unvereinbar ist. Zudem ist es inakzeptabel, in einem solchen Text die
eigenen kommunikativen Intentionen – in diesem Fall den Versuch, den Leser für
den eigenen Text zu interessieren – erkennbar werden zu lassen. In tendenziell
manipulativen Texten, in denen bewusst die (angebliche) Persönlichkeit des
Produzenten eingebracht wird (wie z.B. Meinungskolumnen und wahlwerbende
'persönliche Briefe' von Politikern), sollten wir dagegen diverse Formen von
Kontextualisierungshinweisen Konzeptionell mündlich vs. konzeptionell schriftlichEin weiteres interessantes Thema ergibt sich vom Standpunkt der
konzeptionellen Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit von medial schriftlichen
Texten (vgl. Koch & Österreicher 1994
M a r q u i s (mit Bedeutung). Sagtest du mir nicht, Hier wird nicht nur jede Äußerung klar ihrem Produzenten zugeordnet, sondern auch Pausen, Sprechrhythmus, Emphase, prosodische und paraverbale Phänomene ("mit Bedeutung") und Blickverhalten der Beteiligten festgehalten. Diese Hinweise werden entweder explizit verbalisiert oder durch das verwendete Zeichensystem transportiert (Satzzeichen wie Fragezeichen und Gedankenstrich, kursive Schrifttype). Ein Minimum an derartigen Signalen findet sich auch im folgenden Auszug: - Summer. A river. Europe. These are the basic ingredients. Hier signalisiert der Autor Satzintonation durch den Einsatz von Punkt bzw.
Fragezeichen sowie Sprecherwechsel durch den Gedankenstrich. Überlappungen
kennzeichnet er durch einen Schrägstrich. Das ist allerdings schon alles – die
Zuordnung der Redebeiträge zu den Beteiligten ist völlig frei, ebenso wie deren
Identität und sogar ihre Anzahl. Die Gestaltung der Szene wird völlig den
ausführenden Schauspielern bzw. den Regisseuren der jeweiligen Produktionen
überlassen, die dann nicht nur (innerhalb gewisser Grenzen natürlich) selbst
entscheiden können, welche Rahmen sie durch den vorgegebenen Text beim Publikum
evozieren wollen, sondern sich auch auf das zu erwartende Hintergrundwissen der
Zuschauer ihrer spezifischen Inszenierung, das der Autor ja kaum einschätzen
kann, einstellen können.
FormEine der wichtigsten Fragen muss selbstverständlich der Form der Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium gelten, wenn wir berücksichtigen, dass auch in diesem Medium die enger gefasste Definition des Konzepts gelten soll, die nur nicht-referentielle und nicht-lexikalische Zeichen einbezieht. Georgakopoulou (1997)
they mainly operate at the level of code choices from among
the options of a linguistic repertoire. As a result, code-switches prove to
undoubtedly represent the lion's share of cues in the processes of
contextualization by being systematically focussed on. Die Autorin berücksichtigt allerdings nicht potenzielle endogen schriftliche
Kontextualisierungshinweise – kurz, sie geht davon aus, dass
Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium "merely a reflex of their
counterparts in face-to-face interaction" (Androutsopoulos 1998: section 7
Androutsopoulos dagegen stellt die Frage, ob Kontextualisierungsverfahren in
medial vermittelter Kommunikation "merely a reflex of their counterparts in
face-to-face interaction" sind oder ob sie auch "make use of medium-specific
properties and margins” (Androutsopoulos 1998: section 7
This extension seems both useful and legitimate. It is useful
since writers can manipulate spelling in a manner analogous to intonation and
other features of spoken discourse. For instance, the spelling cooooool ...
contextualizes irony, corresponding to vowel lengthening in speech. It is
legitimate, since 'deviant' spellings comply with a number of criteria which
indicate contextualization cues in spoken language: they have no referential
meaning as such, they can be ambiguous, and their "meaning" has to be
interpreted locally. For instance, in another context the spelling coooool
can indicate positive evaluation or enthusiasm. Moreover, readers with a shared
cultural background can recognize particular spellings and make inferences about
the writer's group affiliation, his or her attitude to the message etc. Er findet Belege für zwei wichtige Funktionen von Kontextualisierungshinweisen in seinem Korpus, die beide maßgeblich dazu beitragen sollen, beim Rezipienten die erwünschten Rahmen bezüglich der Identität des Schreibenden auszulösen: zum einen zur Signalisierung der Abgrenzung gegenüber einer Outgroup (und damit der eigenen Gruppenzugehörigkeit) und zum anderen die Demonstration der eigenen Kreativität, Originalität bzw. Radikalität im Rahmen der subkulturellen Werte. Dies bringt uns zu der Frage, welche Formen von Kontextualisierungshinweisen nun grundsätzlich im schriftlichen Medium auftreten können. Es ist, insbesondere im Hinblick auf die evolutionäre Vorgängigkeit der mündlichen gegenüber der schriftlichen Kommunikation, gewiss nicht anzunehmen, dass für dieses Medium ein komplett neues Signalsystem angewandt wird. Die Tatsache, dass Kontextualisierungshinweise in Face-to-Face-Kommunikation vorwiegend unbewusst eingesetzt werden, lässt vermuten, dass schriftlich Kommunizierende unwillkürlich versuchen werden, einen Weg zu finden, zumindest gewisse Zeichen aus der somatischen Kommunikation in das schriftliche Medium zu übertragen. Damit sind nun zwei Klassen von Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium zu erwarten:
Graphisch kann der Zusammenhang zwischen diesen beiden Typen von Kontextualisierungskonventionen folgendermaßen dargestellt werden:
ad (1) Primär schriftliche Kontextualisierungskonventionen sind dem schriftlichen Medium endogen. Derartige Kontextualisierungshinweise können nicht als Substitution von bestimmten Typen von Kontextualisierungshinweisen aus der Face-to-Face-Kommunikation angesehen werden. Beispiele aus dem Datenmaterial der vorliegenden Arbeit finden sich etwa im Gebrauch von Farben, im Einsatz von Asterisken im Zusammenhang mit Inflektiven, aber auch unter den Emoticons (die keineswegs unreflektiert dem Gesichtsausdruck des Produzenten gleichgestellt werden können). Bei solchen Kontextualisierungshinweisen wird es sich vermutlich großteils um Phänomene handeln, die nicht für die orale Produktion geeignet sind (siehe unten). ad (2) Als sekundär schriftliche Kontextualisierungshinweise möchte
ich jene Gruppe von Konventionen bezeichnen, die Androutsopoulos (1998:
section7
Ähnlich, aber vielleicht nicht deckungsgleich kann man Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium auch danach klassifizieren, ob sie 'aussprechbar' sind oder nicht – also ob man annehmen kann, dass sie ein orales bzw. subvokalisches Phänomen reproduzieren sollen:
Bei der Gruppe eins, also jenen, bei denen das der Fall ist (z.B. die
Verwendung von Großbuchstaben zum
Signalisieren von Lautstärke, einige Funktionen von Satzzeichen usw.),
ist davon auszugehen, dass sie auch funktional "equivalent to those of spoken
language" (Androutsopoulos 1998: section 7
Die genannten Kategorien sind durchaus durchlässig. So können Strategien aus
der zweiten Gruppe verallgemeinert werden und stehen dann u.U. nur noch für
Emphase – im untersuchten Material gibt es diverse Belege für unaussprechbare
Reduplikationen von Plosiven und den 'kreativen' Einsatz von Satzzeichen. Auch
Akronyme wie lol und rotfl bewegen sich
möglicherweise bereits weg von einer analytischen Perzeption (als Kurzformen von
'laughing out loud' bzw. 'rolling on the floor laughing') und hin zu einer
synthetischen
Ungeachtet ihrer Provenienz können die in schriftlicher Kommunikation auftretenden Typen von Kontextualisierungshinweisen analog zur Face-to-Face-Kommunikation auch nach rein formalen Gesichtspunkten kategorisiert werden.
Ein eindrucksvolles
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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