Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Kontextualisierung und Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium

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Das von Gumperz formulierte Konzept der Kontextualisierungshinweise wurde ursprünglich ausschließlich für den Bereich der Face-to-Face-Interaktion eingeführt. Allerdings erscheint eine Ausweitung der Theorie auf medial vermittelte Kommunikation "both useful and legitimate" (Androutsopoulos 1998: section 6 ). Rekapitulieren wir, wozu Kontextualisierungshinweise dienen:

Sprecher und Hörer benutzen bestimmte Zeichen (Kontextualisierungshinweise), um auf das für die angemessene Interpretation ihrer Aktivitäten relevante Hintergrundwissen zu verweisen. Erst dann, wenn die aktuelle Verhaltensweise vor dem Hintergrund dieses relevanten Hintergrundwissens gesehen wird, erhält sie ihre spezifische soziale Bedeutung. Sprecher und Hörer signalisieren sich also die für die Interpretation ihres Verhaltens relevanten Kontexte.
Schmitt 1993: 327

Jede Form von menschlicher Kommunikation, also auch über das schriftliche Medium, erfordert mindestens einen Produzenten, der unter Rückgriff auf sein spezifisches Hintergrundwissen eine Mitteilung produziert, und mindestens einen Rezipienten, der diese Mitteilung wiederum unter Rückgriff auf sein spezifisches Hintergrundwissen dekodiert. Warum sollte es nicht auch in schriftlicher Kommunikation grundsätzlich möglich sein, mittels gewisser Signale "auf das für die angemessene Interpretation ihrer Aktivitäten relevante Hintergrundwissen zu verweisen" (ibid. )? Ja, man könnte sogar davon ausgehen, dass schriftliche Kommunikation aufgrund der Abkopplung von ihrem Produzenten und der Schwierigkeit des recipient design besonders dringend interpretatorischer Fingerzeige bedarf:

Ist sie aber einmal geschrieben, so schweift auch überall jede Rede gleichermaßen unter denen umher, die sie verstehen, und unter denen, für die sie nicht gehört, und versteht nicht, zu wem sie reden soll und zu wem nicht. Und wird sie beschimpft, so bedarf sie immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder sich zu schützen noch zu helfen imstande.
Platon: Phaidros, Abs. 274e

Selbstverständlich wirft die Frage der Übertragbarkeit eines Konzepts von somatischer auf schriftliche Kommunikation viele Fragen zum Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit allgemein auf. Vielleicht ist auch das der Grund dafür, dass es bis jetzt nur sehr wenige Arbeiten gibt, in denen medial schriftliche Texte vom Standpunkt der Kontextualisierungsforschung oder zumindest unter Rückgriff auf Konzepte aus dieser Forschungsrichtung untersucht worden sind. Darunter sind die Werke von Georgakopoulou (1997) über Code-Switching als Kontextualisierungshinweis in E-Mails zweisprachiger Produzenten, Androutsopoulos (1998) über Fanzines und ihre Verortung in jugendlicher Subkultur und Thimm (2001) , die Protokolle von Chatsessions einer Drogenberatung untersucht. Keine dieser Arbeiten widmet sich systematisch der Aufarbeitung von möglichen Formen und Funktionsweisen von Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann diese Problematik auch bestenfalls angerissen werden. Im Folgenden sollen in einer ersten Annäherung einige offene Fragen und Forschungsdesiderata angesprochen werden.

Überlegungen

Hintergrundwissen

Einer der wichtigsten Faktoren in Bezug auf Funktion und Auftreten von Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium ist sicherlich das geteilte Hintergrundwissen. Da Kontextualisierungshinweise stark kulturspezifisch sind und nur dann funktionieren, wenn Produzent und Rezipient über eine gewisse Menge an gemeinsamem Hintergrundwissen verfügen, ist anzunehmen, dass in Textsorten, in denen der Autor seinen potenziellen Leserkreis nur wenig einschätzen kann, andere Methoden die Funktion der Kontextualisierungshinweise übernehmen. In einem Brief an einen guten Freund sind daher mehr Kontextualisierungsverfahren zu erwarten als in einem Geschäftsbrief, und in einer Zeitschrift mit einer kleinen, verschworenen Lesergemeinde (wie die von Androutsopoulos (1998) untersuchten Fanzines) mehr Kontextualisierungsverfahren als in einer auflagenstarken Tageszeitung.

Personenorientiert vs. sachorientiert

Kontextualisierungshinweise werden eingesetzt, um etwas über die kommunikative Intention des Produzenten auszusagen. Daher kann vermutet werden, dass in personenorientierten Texten mehr Kontextualisierungshinweise eingesetzt werden als in sachorientierten. Verstärkt wird dieser Effekt dadurch, dass Subjektivität in unserer Kultur in vielen sachorientierten Textsorten stark tabuisiert ist. Besonders in wissenschaftlichen Texten soll der Autor tunlichst vermeiden, seine Persönlichkeit und seine kommunikativen Intentionen aus dem Text erkennbar werden zu lassen. Während ein Text wie das folgende Abstract akzeptabel ist:

Um die klinische Interpretation von IQ-, Index- und Subtestwerten im HAWIK-III zu erleichtern, werden Tabellen mit kritischen Werten für paarweise und ipsative Vergleiche der IQ- und Indexwerte sowie mit 68%- und 90%-Konfidenzintervallen für die Untertests bereitgestellt. Im Gegensatz zum HAWIK-III Manual wurden die kritischen Werte für paarweise Skalenvergleiche mittels Bonferroni-Adjustierung für multiple Prüfungen berechnet.
Renner 2002: keine Paginierung

wäre er das in der folgenden Fassung nicht, obwohl er so sogar mehr Information enthält:

* also, es geht darum: ich wollte die klinische interpretation von iq-, index- und subtestwerten im HAWIK-III erleichtern. deshalb habe ich *TABELLEN* mit kritischen werten für paarweise und ipsative vergleiche der iq- und indexwerte und mit 68%- und 90%-konfidenzintervallen für die untertests bereitgestellt... und weißt du was, im gegensatz zum hawik-III manual hab ich die kritischen werte für *PAARWEISE SKALENVERGLEICHE* mittels bonferroni-adjustierung für multiple prüfungen berechnet!!! ganz schön schlau, was? lies unbedingt weiter, das ist wirklich wahnsinnig interessant!

In dieser Form ruft der Text beim Adressaten vollkommen unpassende Rahmungen hervor. Die Wahl des familiären Anredepronomens, 'expressiver' bzw. 'kreativer' Umgang mit Satzzeichen und Formatierung und rhetorische Mittel wie eine direkte Anrede des (gedachten) Rezipienten könnten als Kontextualisierungshinweise für einen persönlichen, freundschaftlichen Rahmen und eine Hervorhebung der Individualität des Autors angesehen werden, was mit dem Kriterium der objektiven Distanz, wie es in der westlichen Kultur für wissenschaftliche Texte gefordert ist, unvereinbar ist. Zudem ist es inakzeptabel, in einem solchen Text die eigenen kommunikativen Intentionen – in diesem Fall den Versuch, den Leser für den eigenen Text zu interessieren – erkennbar werden zu lassen. In tendenziell manipulativen Texten, in denen bewusst die (angebliche) Persönlichkeit des Produzenten eingebracht wird (wie z.B. Meinungskolumnen und wahlwerbende 'persönliche Briefe' von Politikern), sollten wir dagegen diverse Formen von Kontextualisierungshinweisen
finden.

Konzeptionell mündlich vs. konzeptionell schriftlich

Ein weiteres interessantes Thema ergibt sich vom Standpunkt der konzeptionellen Mündlichkeit bzw. Schriftlichkeit von medial schriftlichen Texten (vgl. Koch & Österreicher 1994 ). Enthalten Texte, die nach dieser Betrachtungsweise als konzeptionell mündlich einzustufen sind, mehr Kontextualisierungshinweise als solche, die als konzeptionell schriftlich gelten? Wie sieht es mit primär schriftlichen Texten aus, die im Hinblick auf eine spätere orale Präsentation produziert werden (wie z.B. Theaterstücke oder Reden) und sekundär schriftlichen, die auf orale Kommunikation zurückgehen (z.B. Gerichtsprotokolle, Interviews)? Zumindest für die Textsorte Drama sind die verschiedensten Vorgehensweisen im Umgang mit Kontextualisierungshinweisen (zumindest jenen, die aus der somatischen Kommunikation abgeleitet sind) belegt. Zwei (zugegebenermaßen extreme) Beispiele:

M a r q u i s (mit Bedeutung). Sagtest du mir nicht,
Du liebtest deine Mutter? – Du bist willens,
Ihr diesen Brief zu zeigen?
(Carlos sieht zur Erde und schweigt.)
                                   Karl, ich lese
In deinen Mienen etwas – mir ganz neu –
Ganz fremd bis diesen Augenblick – Du wendest
Die Augen von mir? Warum wendest du
Die Augen von mir? So ist's wahr? – Ob ich
Denn wirklich recht gelesen? Laß doch sehn –
(Carlos gibt ihm den Brief. Der Marquis zerreißt ihn.)
C a r l o s . Was, bist du rasend?
(Mit gemäßigter Empfindlichkeit.)
                                             Wirklich – ich gesteh es –
An diesem Briefe lag mir viel.
M a r q u i s.                     So schien es.
Darum zerriß ich ihn.
(Der Marquis ruht mit einem durchdringenden Blick auf dem Prinzen, der ihn zweifelhaft ansieht. Langes Stillschweigen.)
Schiller 1787 [1969]: 81

Hier wird nicht nur jede Äußerung klar ihrem Produzenten zugeordnet, sondern auch Pausen, Sprechrhythmus, Emphase, prosodische und paraverbale Phänomene ("mit Bedeutung") und Blickverhalten der Beteiligten festgehalten. Diese Hinweise werden entweder explizit verbalisiert oder durch das verwendete Zeichensystem transportiert (Satzzeichen wie Fragezeichen und Gedankenstrich, kursive Schrifttype).

Ein Minimum an derartigen Signalen findet sich auch im folgenden Auszug:

- Summer. A river. Europe. These are the basic ingredients.
- And a river running through it.
- A river, exactly, running through a great European city and a couple at the water's edge. These are the basic ingredients.
- The woman?
- Young and beautiful, naturally.
- The man?
- Older, troubled, sensitive, naturally.
- A naturally sensitive man but nevertheless a man of power and authority who knows this is wrong.
- They both know this is wrong.
- They both know this is wrong but they can't / help themselves. Exactly.
- They're making love in the man's apartment.
- Doing what?
- Making love. Making love in the man's apartment. A luxury apartment, naturally, with a view over the entire city. These are the / basic ingredients.
Crimp 1997: 5

Hier signalisiert der Autor Satzintonation durch den Einsatz von Punkt bzw. Fragezeichen sowie Sprecherwechsel durch den Gedankenstrich. Überlappungen kennzeichnet er durch einen Schrägstrich. Das ist allerdings schon alles – die Zuordnung der Redebeiträge zu den Beteiligten ist völlig frei, ebenso wie deren Identität und sogar ihre Anzahl. Die Gestaltung der Szene wird völlig den ausführenden Schauspielern bzw. den Regisseuren der jeweiligen Produktionen überlassen, die dann nicht nur (innerhalb gewisser Grenzen natürlich) selbst entscheiden können, welche Rahmen sie durch den vorgegebenen Text beim Publikum evozieren wollen, sondern sich auch auf das zu erwartende Hintergrundwissen der Zuschauer ihrer spezifischen Inszenierung, das der Autor ja kaum einschätzen kann, einstellen können.

Form

Eine der wichtigsten Fragen muss selbstverständlich der Form der Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium gelten, wenn wir berücksichtigen, dass auch in diesem Medium die enger gefasste Definition des Konzepts gelten soll, die nur nicht-referentielle und nicht-lexikalische Zeichen einbezieht.

Georgakopoulou (1997) mutmaßt in ihrer Untersuchung von "Self-presentation and interactional alliances in e-mail-discourse" durch "style and code-switches of Greek messages", dass Kontextualisierungshinweise der Face-to-Face-Interaktion kaum an ein rein schriftliches Medium anpassbar seien. Statt dessen, so die Autorin,

they mainly operate at the level of code choices from among the options of a linguistic repertoire. As a result, code-switches prove to undoubtedly represent the lion's share of cues in the processes of contextualization by being systematically focussed on.
Georgakopoulou 1997: 147

Die Autorin berücksichtigt allerdings nicht potenzielle endogen schriftliche Kontextualisierungshinweise – kurz, sie geht davon aus, dass Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium "merely a reflex of their counterparts in face-to-face interaction" (Androutsopoulos 1998: section 7 ) zu sein hätten. Zudem liegt die Vermutung nahe, dass Georgakopoulous Schlussfolgerung stark von ihrem zweisprachigen Korpus beeinflusst  wurde. Für schriftliche Interaktionen zwischen einsprachigen Teilnehmern ist zu bezweifeln, dass der Löwenanteil der Kontextualisierungshinweise auf Code-Switching-Phänomene entfällt. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass auch der systematische Wechsel zwischen zwei Varietäten ein- und derselben Sprache (z.B. Standard und regionaler Dialekt) als Code-Switching gilt. Dennoch wird das Code-Switching als linguistische Ressource dem 'Otto Normalkommunikator' sicherlich weniger präsent sein als den von Georgakopoulou untersuchten bilingualen Akademikern. Die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit legen mithin auch nahe, dass es sowohl dem schriftlichen Medium eigene Kontextualisierungshinweise gibt als auch solche, die aus der somatischen Kommunikation adaptiert sind sowie natürlich auch Code-Switching-Phänomene, allerdings in den untersuchten Daten nur in sehr geringem Maße. Das mag unter anderem daran liegen, dass Switches zwischen Dialekt- und Standardvarietät, so welche auftreten, für den Analysierenden (und auch für den intendierten Rezipienten!) im schriftlichen Medium aufgrund des Fehlens einer genormten Transkriptionsweise für dialektale Charakteristika nicht immer eindeutig zu erkennen sind bzw. hier ein Kontinuum vorliegt, das naturgemäß bei der Verwendung zweier verschiedener Sprachen so nicht gegeben sein kann.

Androutsopoulos dagegen stellt die Frage, ob Kontextualisierungsverfahren in medial vermittelter Kommunikation "merely a reflex of their counterparts in face-to-face interaction" sind oder ob sie auch "make use of medium-specific properties and margins” (Androutsopoulos 1998: section 7 ). Der Autor kommt zu dem Schluss, dass Letzteres zutrifft. Kontextualisierungsverfahren in schriftlicher Kommunikation sind also seinen Erkenntnissen nach zwar "equivalent to those of spoken language” (ibid.), nützen aber auch Medienspezifika aus, sodass nicht von einer reinen Übertragung somatischer Konventionen in das schriftliche Medium gesprochen werden kann. Als Beispiel nennt er die Längung des Vokals im Wort cooooool (aus seiner Untersuchung subkultureller Fanzines), anhand derer er die Legitimität seiner Ausweitung von Gumperz' Konzept auf das schriftliche Medium demonstriert:

This extension seems both useful and legitimate. It is useful since writers can manipulate spelling in a manner analogous to intonation and other features of spoken discourse. For instance, the spelling cooooool ... contextualizes irony, corresponding to vowel lengthening in speech. It is legitimate, since 'deviant' spellings comply with a number of criteria which indicate contextualization cues in spoken language: they have no referential meaning as such, they can be ambiguous, and their "meaning" has to be interpreted locally. For instance, in another context the spelling coooool can indicate positive evaluation or enthusiasm. Moreover, readers with a shared cultural background can recognize particular spellings and make inferences about the writer's group affiliation, his or her attitude to the message etc.
Androutsopoulos 1998: section 6

Er findet Belege für zwei wichtige Funktionen von Kontextualisierungshinweisen in seinem Korpus, die beide maßgeblich dazu beitragen sollen, beim Rezipienten die erwünschten Rahmen bezüglich der Identität des Schreibenden auszulösen: zum einen zur Signalisierung der Abgrenzung gegenüber einer Outgroup (und damit der eigenen Gruppenzugehörigkeit) und zum anderen die Demonstration der eigenen Kreativität, Originalität bzw. Radikalität im Rahmen der subkulturellen Werte.

Dies bringt uns zu der Frage, welche Formen von Kontextualisierungshinweisen nun grundsätzlich im schriftlichen Medium auftreten können. Es ist, insbesondere im Hinblick auf die evolutionäre Vorgängigkeit der mündlichen gegenüber der schriftlichen Kommunikation, gewiss nicht anzunehmen, dass für dieses Medium ein komplett neues Signalsystem angewandt wird. Die Tatsache, dass Kontextualisierungshinweise in Face-to-Face-Kommunikation vorwiegend unbewusst eingesetzt werden, lässt vermuten, dass schriftlich Kommunizierende unwillkürlich versuchen werden, einen Weg zu finden, zumindest gewisse Zeichen aus der somatischen Kommunikation in das schriftliche Medium zu übertragen. Damit sind nun zwei Klassen von Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium zu erwarten:

  1. Substitution von Zeichen aus der somatischen Kommunikation mithilfe der zur Verfügung stehenden Mittel (sekundäre Konventionen).
  2. Entwicklung neuer (primärer), medienspezifischer oder (falls das möglich ist) gänzlich medienunabhängiger Konventionen.

Graphisch kann der Zusammenhang zwischen diesen beiden Typen von Kontextualisierungskonventionen folgendermaßen dargestellt werden:

Produzent Intention
   
Face-to-Face-Kommunikation Gestik, Mimik, Prosodie...
 
Kommunikation im schriftlichen Medium (1) Primäre (endogene) Kontextualisierungs-konventionen (2) Sekundäre Kontextualisierungs-konventionen (Substitution)
 
Rezipient Interpretation

ad (1) Primär schriftliche Kontextualisierungskonventionen sind dem schriftlichen Medium endogen. Derartige Kontextualisierungshinweise können nicht als Substitution von bestimmten Typen von Kontextualisierungshinweisen aus der Face-to-Face-Kommunikation angesehen werden. Beispiele aus dem Datenmaterial der vorliegenden Arbeit finden sich etwa im Gebrauch von Farben, im Einsatz von Asterisken im Zusammenhang mit Inflektiven, aber auch unter den Emoticons (die keineswegs unreflektiert dem Gesichtsausdruck des Produzenten gleichgestellt werden können). Bei solchen Kontextualisierungshinweisen wird es sich vermutlich großteils um Phänomene handeln, die nicht für die orale Produktion geeignet sind (siehe unten).

ad (2) Als sekundär schriftliche Kontextualisierungshinweise möchte ich jene Gruppe von Konventionen bezeichnen, die Androutsopoulos (1998: section7 ) als "reflex of their counterparts in face-to-face interaction" charakterisiert. Häufig wird dieses Gegenstück aus der Face-to-Face-Kommunikation in der Prosodie liegen – es handelt sich dann sozusagen um 'Prosodie übersetzt in ASCII'. Nicht nur im Chat, sondern auch in vielen anderen schriftlichen Medien steht der Gebrauch von Großbuchstaben eindeutig für erhöhte Lautstärke. Studien belegen, dass Satzzeichen eng mit Prosodie verbunden sind. Reduplikation von Buchstaben schließlich signalisiert ikonisch die Längung der Phoneme, für die sie stehen. Diese Klasse von Kontextualisierungskonventionen muss im Zusammenhang mit dem Phänomen der Subvokalisation betrachtet werden. Emoticons können mit der gebotenen Vorsicht (siehe oben) teils als Substitut für Mimik angesehen werden.

Ähnlich, aber vielleicht nicht deckungsgleich kann man Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium auch danach klassifizieren, ob sie 'aussprechbar' sind oder nicht – also ob man annehmen kann, dass sie ein orales bzw. subvokalisches Phänomen reproduzieren sollen:

  1. prosodieabhängige Kontextualisierungskonventionen
  2. prosodieunabhängige Kontextualisierungskonventionen

Bei der Gruppe eins, also jenen, bei denen das der Fall ist (z.B. die Verwendung von Großbuchstaben zum Signalisieren von Lautstärke, einige Funktionen von Satzzeichen usw.), ist davon auszugehen, dass sie auch funktional "equivalent to those of spoken language" (Androutsopoulos 1998: section 7 ) sind. Von Interesse sind dann vor allem die Art des Substituts und die Grenzen seines Einsatzes. Durch ihre grundlegende Andersartigkeit dagegen sollte die Gruppe zwei (z.B. Emoticons, Einsatz von Farben usw.) das besondere Interesse der Kontextualisierungsforschung erregen.

Die genannten Kategorien sind durchaus durchlässig. So können Strategien aus der zweiten Gruppe verallgemeinert werden und stehen dann u.U. nur noch für Emphase – im untersuchten Material gibt es diverse Belege für unaussprechbare Reduplikationen von Plosiven und den 'kreativen' Einsatz von Satzzeichen. Auch Akronyme wie lol und rotfl bewegen sich möglicherweise bereits weg von einer analytischen Perzeption (als Kurzformen von 'laughing out loud' bzw. 'rolling on the floor laughing') und hin zu einer synthetischen , also der Wahrnehmung als unteilbares Signal und Kontextualisierungshinweis für Amüsement, übereinstimmend mit der von Liebsch (1992: 310) georteten eine "Tendenz zur >>Visualisierung<< der schriftsprachlichen Kommunikation", dem "mentale[n] Erfassen grafischer Zeichenkomplexe, ohne daß bei der Apperzeption eine Lautgestalt materialisiert wird". Auch in diesem Fall ist allerdings wahrscheinlich, dass diese Formen eher als Notationsmöglichkeit für das somatische Lachen wahrgenommen werden und somit auch nicht von der Mündlichkeit abgekoppelt sind.

Ungeachtet ihrer Provenienz können die in schriftlicher Kommunikation auftretenden Typen von Kontextualisierungshinweisen analog zur Face-to-Face-Kommunikation auch nach rein formalen Gesichtspunkten kategorisiert werden.

  Charakter Form im schriftlichen Medium Beispiel aus IRC
segmental aus einzelnen Zeichen zusammengesetzt explizit-verbal NickName freut sich
suprasegmental nicht von den tragenden Zeichen ablösbar Manipulation von Zeichen HAAAAAALLOOOO??!
non-/paraverbal nicht sprachlich grafisch :-)

Ein eindrucksvolles Beispiel für einen nonverbalen Kontextualisierungshinweis im schriftlichen Medium lieferte eine Person, die vor mir das Werk von Filinski (1998) ausgeliehen hatte. Filinskis Versuch, "die Charaktere der Online-Community unter verschiedenen Schlagworten einzuordnen und bestimmte Verhaltensmuster aufzuzeigen" (208), kommentierte diese Person mit den mit Bleistift handgeschriebenen Worten: "SEHR GEISTREICHE TYPOLOGIE: ALLE ACHTUNG". Der Rahmen, in dem diese Einschätzung zu interpretieren ist, wird durch ein nonverbales Zeichen deutlich signalisiert:


Notiz in Filinski 1998, S. 210


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann