Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Conversational Management

Voriges Kapitel Nächstes Kapitel

Wie im Abschnitt Kontextualisierung ausgeführt, leiten Kontextualisierungshinweise die Interpretation bzw. führen zu Inferenzen auf folgenden Ebenen:

1. Ebene des konversationellen Managements
2. lokale Einschätzungen unter einer pragmatischen Perspektive: kommunikative Absicht
3. globale Rahmungen hinsichtlich komplexer sozialer Aktivitäten
nach Schmitt 1993: 336

So signalisieren sie auf der Ebene des Conversational Management z.B.

Informationen hinsichtlich möglicher turn constructional units ... (ist ein Sprecher dabei, seinen Beitrag abzuschließen, wird gerade eine Nebensequenz realisiert, wird gerade eine neue Information gegeben etc.)
ibid.

Da die Strategien des Conversational Management aufgrund der medialen Rahmenbedingungen in IRC ganz anderen Gesetzmäßigkeiten unterliegen als in Face-to-Face-Kommunikation, würde eine detaillierte Betrachtung dieses Bereichs den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Um diesem Aspekt gerecht zu werden, müsste er systematisch in einem konversationsanalytischen Framework behandelt werden. Darum soll in diesem Teil der vorliegenden Arbeit nur allgemein auf einige Besonderheiten dieses Bereichs eingegangen werden.

Zunächst muss ein strukturelles Merkmal der Chat-Kommunikation angesprochen werden. Anders als speech events in der Face-to-Face-Interaktion haben Chatsequenzen in vielen Fällen keinen klar erkennbaren Anfang oder Schluss (vgl. Schönfeldt 2001: 34 ). Große, internationale Channels werden rund um die Uhr von Chattenden frequentiert, weshalb dort (durchaus mit wechselnder Besetzung) durchgängig und kontinuierlich kommuniziert werden kann. Ein klar abgegrenztes speech event "marked by a beginning, middle and an end” (Gumperz 1992a: 44 ) kann man also nur aus der Sicht jedes einzelnen Teilnehmers identifizieren, für den seine 'Chat-Session' zu einem jeweils konkreten Zeitpunkt mit seinem Einloggen angefangen und mit dem Ausloggen aufgehört hat und der diesen konkreten Anfang und Schluss mit hoher Wahrscheinlichkeit durch ritualisierte Grußsequenzen markiert hat.

Innerhalb dieses kontinuierlichen Diskurses aber gibt es aber sehr wohl abgrenzbare Gesprächsepisoden. Sowohl Schönfeldt (2001: 52 ) wie auch Bader (2002: 70) kommen zu dem Schluss, dass die Gesprächsorganisation von Chat und Face-to-Face-Kommunikation vergleichbar ist. Bader identifiziert in den Chat-Episoden aus ihrem Datenmaterial genau wie in der Face-to-Face-Kommunikation die Phasen Gesprächseröffnung, Kern und Beendigungsphase. Weitere strukturierende Elemente der mündlichen Kommunikation wie lexikalische Gliederungssignale, Sprecher-/Hörersignale, Adressierungen, gefüllte Pausen, Dialog- und Modalpartikel sowie Interjektionen konnten ebenfalls in ihrem Datenmaterial nachgewiesen werden, und "[a]uch das Sprecherwechselsystem mit den Formen der Fremd- und Selbstselektion kann auf die Chats übertragen werden" (Bader 2002: 70 ). Dem ist sicherlich zuzustimmen, da auch in IRC die Möglichkeiten von Selbst- und Fremdwahl bestehen; die Mechanismen aber, mit denen dies verhandelt wird, unterscheiden sich schon aus dem einfachen Grund, dass der Sprecherwechsel in Face-to-Face-Interaktion stark auf para- und nonverbalen Strategien beruht, zwangsläufig von denen der somatischen Kommunikation. Zudem unterliegen Backchannel-Strategien wie Rezipienzsignale in Face-to-Face-Interaktion zu einem großen Teil nicht vollständig der bewussten Kontrolle (vgl. Argyle 1979: 61 ), sodass auch aus diesem Grund keine vollständige Äquivalenz der Strategien angenommen werden kann.

Tatsächlich unterscheiden sich die Bedingungen und Mechanismen des Turntaking in IRC teils ganz erheblich von denen der somatischen Kommunikation. So kann es etwa Überlappungen und Unterbrechungen im üblichen Sinne in diesem Medium nicht geben. Weiters soll die Annahme vertreten werden, dass Rezipienzsignale im Chat (darunter können neben Transkriptionen der face-to-face eingesetzten Vokalisationen nach dem Typ mhm auch Emoticons oder drei Punkte fallen) nicht primär dem Conversational Management dienen, sondern in einem sozialen Rahmen gesehen werden müssen. In mehreren Arbeiten konnten auch chat-eigene und neu entwickelte Konventionen zum Sprecherwechsel beobachtet werden (Adressierungskonvention, Anfügen eigener Zeichen am Ende eines Turns) – diese finden sich im vorliegenden Datenmaterial allerdings nicht oder in stark abgewandelter Form.

Auch eine weitere in der Literatur oft angesprochene Besonderheit der Chat-Kommunikation tritt im Datenmaterial aufgrund der konkreten Rahmenbedingungen der spezifischen Channels kaum auf: in vielen Chat-Kanälen ist es Usus, dass erfahrene Nutzer längere Gesprächsbeiträge in einzelne Teile zerlegen, um ihre Kommunikationspartner nicht allzu lange auf ihren Beitrag warten zu lassen (da es ja für sie nicht ersichtlich ist, dass der Betreffende gerade an einem Beitrag schreibt). In den von mir untersuchten Kanälen kommt das allerdings kaum vor – wie es ein Teilnehmer selbst formuliert: sonst flieg i wieder wegen flood. Diese für Nichteingeweihte etwas kryptische Äußerung bezieht sich auf die Tatsache, dass es in sehr vielen Kanälen auf dem fraglichen Server so genannte 'Bots' gibt – dem Jargon File (v.4.3.3) zufolge ein "user who is actually a program" (Raymond 2002: "bot" ) -: Programme, die mit Operator-Privilegien ausgestattet sind und Nutzer bei bestimmten unerwünschten Verhaltensweisen automatisch verwarnen oder des Chatrooms verweisen können. Zu diesen unerwünschten Verhaltensweisen gehört auch 'Flooding', das 'Überfluten' des Kanals durch ständiges Eingeben von (meist unsinnigem oder feindseligem) Text in schneller Abfolge, wodurch die Kommunikation für die anderen Teilnehmer praktisch unmöglich wird. Um das zu vermeiden, werden Chatter, die eine gewisse Menge an Text in zu schneller Abfolge eingeben, ohne dass sich ein anderer Teilnehmer dazwischen äußert, von einigen Bots automatisch 'gekickt' – mit anderen Worten, sie 'fliegen' aus dem Raum. Da die Bots Äußerungen natürlich nicht inhaltlich auswerten können, kann das durchaus auch redlichen Teilnehmern passieren, die keinerlei böse Absichten hegten. Erfahrene Chatter wissen natürlich über diesen Umstand Bescheid und vermeiden darum die Zerlegung von Beiträgen.


 Zum Anfang dieser Seite Nächstes Kapitel

© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann