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Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
Rechtschreibfehler und Korrekturen |
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Wie im Abschnitt Orthographische
Manipulation ausgeführt, herrscht im Chat bzw. allgemein in der
computervermittelten
Kommunikation sicherlich eine geringere Orientierung an den traditionellen
orthographischen Normen der Schriftsprache als in anderen Formen schriftlicher
Kommunikation. Diese unzweifelhafte Tatsache wurde bereits vielfach beobachtet –
so gibt etwa Quasthoff (1997: 41f.)
[D]ie Fehler werden als Ausdruck schnellen flüchtigen
Schreibens wahrgenommen – und nicht etwa als Zeichen mangelnder Bildung. ... Durch
den Verbleib derartiger Fehler oder durch die Vermeidung der offensichtlich zu
zeitaufwendigen SHIFT-Taste wird eher der Rahmen einer schnell hingeworfenen
Notiz als eines Briefes erzeugt. Der Diskurs mit dem Empfänger wird als so
informell charakterisiert, daß die für das Schriftliche sonst so typischen
Korrekturdurchgänge entfallen können. Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen ist diese Hypothese nur
bedingt auf die IRC-Kommunikation übertragbar. Die
"sonst für das Schriftliche so typischen Korrekturdurchgänge" können im Chat
schon aufgrund des dort herrschenden Zeitdrucks nicht in der üblichen Weise
durchgeführt werden. Dennoch kann meines Erachtens nicht von einer
systematischen Vernachlässigung der Rechtschreibung gesprochen werden, wie das
unter Bezugnahme auf das 'Ökonomieprinzip' – Ökonomie als wichtigste Motivation
hinter allen sprachlichen Besonderheiten der Chat-Kommunikation (vgl. Geers 1999
Viele von der Standardorthographie abweichende Schreibweisen im Datenmaterial sind sicherlich durch die hohe Geschwindigkeit beim Tippen verursacht; würde das Ökonomieprinzip aber so stark dominieren, wie immer wieder angenommen wird, und wären die Normen der Rechtschreibung tatsächlich irrelevant, müsste dies folgerichtig zu einer generellen Tendenz zur Verkürzung und Vereinfachung führen. Denkbar wäre etwa ein Wegfall von historisch bedingten Konventionen wie dem <ie>, dem <ck> oder dem <tz>. Derartige Tendenzen konnten aber im Datenmaterial nirgends beobachtet werden. Gelegentlich finden wir verkürzte Schriebweisen wie axso [ach so], die aber auch einen originellen Wert besitzen und nicht allein der Ökonomie zugeschrieben werden können. Bei vielen Fällen von nicht der Standardorthographie entsprechenden Schreibungen handelt es sich zudem nicht um 'Rechtschreibfehler' im eigentlichen Sinn, sondern um systematische Transkriptionen umgangssprachlicher oder dialektaler Merkmale bzw. Aussprachevarianten (z.B. is, solls, i [ich], oisa [also], ned, schreibn, was machstn, nedamal usw.). Diese Formen werden strategisch eingesetzt und können daher nicht als Rechtschreibfehler gelten (vgl. Abschnitt Orthographische Manipulation). Selbstverständlich soll nicht bestritten werden, dass auch typische Tippfehler im Chat – wenig überraschend – zweifellos häufig sind (z.B. hanben, herrjehr, jetzzt, elendlsnag, leuta, h9i usw.). Eine Hypothese, die annimmt, orthographische Normen besäßen im Chat kaum Relevanz, lässt sich allerdings nicht aufrechterhalten – dafür kommt es zu oft zu Selbstkorrekturen. Im Folgenden soll versucht werden zu zeigen, dass nicht nur die Vernachlässigung der Rechtschreibung, sondern auch die Korrektur entsprechender Fehler ein Rahmungspotenzial besitzt. Selbstkorrektur von Tipp- und RechtschreibfehlernBei der Durchsicht des Materials fällt auf, dass die Tendenz zur Korrektur eigener Tippfehler eine starke idiosynkratische Komponente aufweist – einige Teilnehmer scheinen höhere Ansprüche an die Standardorientierung ihrer eigenen Orthographie zu haben als andere. Allerdings schrecken dieselben Teilnehmer in anderen Situationen nicht im Geringsten vor spielerischer Manipulation der Orthographie zurück: offensichtlich steckt nicht eine allgemein stärkere Normorientierung hinter dem Korrekturverhalten. Einen möglichen Erklärungsansatz liefert die folgende Behauptung von Bechar-Israeli: Erving Goffman (1959) points out that during personal
interaction people supply two types of information: information they
intentionally provide and information they "give off," or reveal
unintentionally. The latter operates as a control mechanism over the first. When
interacting via computer, only one type of information is provided: information
a person wishes to give, whether factual or fiction. Dies ist mit Sicherheit für weite Bereiche der computervermittelten Kommunikation zutreffend. In einem schriftlich vermittelten Medium unterliegt jene Art von Information, die in der Face-to-Face-Kommunikation typischerweise unwillkürlich vermittelt wird bzw. nur wenig gesteuert werden kann, der vollständigen Manipulierbarkeit. So kann theoretisch jeder Teilnehmer jedes beliebige Bild von sich erschaffen. Die Beherrschung der Orthographie aber gehört zu den wenigen Faktoren, die es ermöglichen, zumindest einen kleinen Blick auf die wahre Persönlichkeit des Nutzers hinter dem Pseudonym zu werfen: es ist unmöglich, Kenntnis der Rechtschreibregeln bloß vorzutäuschen. Der Grad der orthographischen Normgerechtheit der Äußerungen eines Teilnehmers kann also bei seinen Gesprächspartnern zu gewissen Inferenzen bezüglich seines Alters, seines Bildungsgrades und seiner Intelligenz führen. Angesichts dieser Tatsache erstaunt es nicht, dass fehlerhafte Schreibungen
häufig auch dann von den Produzenten korrigiert werden, wenn sie das Verständnis
nicht behindern. In einer frühen Arbeit zu Status in IRC bemerkt Puterman (1994)
Common typos are overlooked in favour of rapidity. Most
IRCers will correct these accidental mistakes as it is a matter of pride. ...
Ultimately, being able to spell correctly is status-enhancing. Somit können Selbstkorrekturen von Tipp- bzw. Rechtschreibfehlern als Kontextualisierungshinweis für einen bestimmten Rahmen, bezogen auf die Person des Produzenten, angesehen werden: sie tragen Information zu Bildung und letztendlich Status des Betreffenden. Für Korrekturen haben sich innerhalb der untersuchten Chat-Gemeinschaft eigene Konventionen entwickelt. Statt das fehlerhafte Wort nochmals zu tippen, greift man hier im Sinne der Ökonomie zurück auf eine typographische Konvention aus einem anderen Bereich, nämlich der Mathematik – fehlende Buchstaben werden mit einem Pluszeichen versehen und sozusagen addiert, überflüssige per Minuszeichen subtrahiert. Eine Kombination aus beiden Vorgangsweisen ergibt den Austausch eines fehlerhaften Zeichens. Die Korrekturkonventionen sind auch auf andere typographische Zeichen als Buchstaben anwendbar (siehe Beispiele unten), was zu für Uneingeweihte mitunter schwer zu entschlüsselnden Zeichenclustern führen kann (-+ +*). Korrekturen werden vorgenommen, sobald sich der Produzent des Tippfehlers bewusst wird; in der Regel, sobald der fehlerhafte Beitrag abgesendet ist und auf dem Schirm aufscheint, gelegentlich aber auch noch innerhalb desselben, zu korrigierenden Beitrags. Eine mögliche Erklärung für diese Art der Korrektur ist, dass sie zeitsparender ist als das Neupositionieren des Cursors zum Einfügen oder Löschen eines Buchstabens an der passenden Stelle; ein weiterer Grund könnte die in IRC stark vertretene Orientierung an Face-to-Face-Interaktion sein: auch in mündlicher Kommunikation können Versprecher und Irrtümer erst im Nachhinein korrigiert und nicht spurlos beseitigt werden. In diesem Fall könnte es sich dabei sogar um einen weiteren Kontextualisierungshinweis für die Orientierung der Chat-Kommunikation an Face-to-Face-Interaktion handeln. Einige Beispiele für Korrekturen: "Subtraktion" eines überflüssigen Zeichens(1) NickName: i wüs nutr wissen (2) NickName1: wer bist du? Einfügen ("Addition") eines fehlenden Zeichens(3) NickName: dann wüsch ich dir viel glück (4) NickName1: kein kommentar warum beschisen Zeichenaustausch: Kombination aus "Subtraktion" und "Addition"(5) NickName: im hesenraum wars kurz (6) NickName: *g+ Es ist auch möglich, ein fehlerhaftes Element (Wort oder Zeichengruppe) nur anhand des Pluszeichens komplett auszutauschen. Hier hat das Pluszeichen seine ursprüngliche Funktion, analog zur mathematischen, verloren und dient nur noch als konventionelles Korrektursignal, so z.B. in den folgenden Auszügen: (7) NickName: hi, meine leiben wie gehts euch denn? (8) NickName: wo wnstz du bitte FremdkorrekturDas Rahmungspotenzial von Rechtschreibung und
Korrekturen wird nicht nur anhand von Selbstkorrekturen, sondern auch an
Fremdkorrekturen deutlich. Fremdkorrekturen treten im gesamten Datenmaterial nur
einige wenige Male auf und stoßen meist auf Ablehnung. Wie Puterman (1994: keine
Paginierung)
It is considered impolite and tactless to rectify another's inconsequential mistake, as it may be taken as a slur on the person's ability. Im folgenden Beispiel kritisiert eine Teilnehmerin die Ausdrucksweise eines anderen Nutzers und beanstandet seine zahlreichen Rechtschreibfehler: (9) NickName1: NickName2 wennst mit mir redest , redest in
einen anderen ton mit mir ok NickName2 weist NickName1s Kritik auf einer Meta-Ebene zurück: er behauptet nicht, dass sie ungerechtfertigt sei, sondern rückt den Akt des Kritisierens selbst in den Mittelpunkt. Sofern sie keine – hier offensichtlich keineswegs rein positiv gesehene – lehrerin ist, hat sie keinen Anlass, fehlerhafte Rechtschreibung zu bemängeln. Anders sieht die Situation aus, wenn die Äußerung durch den Fehler missverständlich wird oder eine andere Bedeutung erhält – hier wird oft nachgefragt bzw. der Fehler thematisiert und damit eine spielerische Sequenz initiiert wie etwa im folgenden Beispiel. (10) NickName1: danke bist ein schatz *küsschengeb* Die Chatterin NickName1 nimmt NickName2s Tippfehler – küsten statt (des immer noch nicht ganz korrekten) küschen – zum Anlass für ein kurzes, provokatives Spiel. Durch ihre Interpretation des irrealen Szenarios "Küsten zurückgeben" innerhalb eines konventionellen Rahmens für "etwas Anbieten" macht sie deutlich, dass es sich nicht um einen ernsthaften Angriff auf NickName2s Face handelt, sondern um eine spielerische Aktivität. Diese Rahmungsstrategie wird durch das Zeichen *g* als Kontextualisierungshinweis unterstützt. Selbstkorrektur von fehlerhaften NicknamesEine Sonderstellung innerhalb der Gruppe der Tipp- und Rechtschreibfehler nehmen fehlerhaft geschriebene Nicknames anderer Teilnehmer ein. Wie im Abschnitt Nicknames erläutert, sind diese äußerst wichtig für die Teilnehmer – man könnte sie als physische Repräsentation oder kennzeichnendes Charakteristikum des Nutzers im konzeptuellen Raum der Chat-Interaktion verstehen. So betrachtet ist es nur logisch, dass Veränderungen des Pseudonyms ausgesprochen face-relevant sind. Bei der Untersuchung des vorliegenden Datenmaterials fällt auf, dass fehlerhafte Nicknames proportional weit häufiger korrigiert werden als andere Tippfehler. Auch dies geschieht nach den oben ausgeführten Konventionen unter Nutzung der Plus- und Minus-Zeichen. Einige Beispiele: "Subtraktion" eines überflüssigen Zeichens(11) NickName: seas hariibo (12) NickName: hi josefine (13) NickName: gn8 petera Einfügen ("Addition") eines fehlenden Zeichens(14) NickName: serwas Futzi+e [fuetzi] (15) NickName: scremi a *zwickerbussiaufsgoschidruck* *gggg* Zeichenaustausch(16) NickName: wie gehts da bernt Es kann angenommen werden, dass der große Wert, der in IRC auf die korrekte Schreibweise des Nicknames des Gesprächspartners gelegt wird, ebenso wie viele Elemente dieser Mikrokultur in einem Rahmen von Solidarität und Betonung des positive face gesehen werden kann. Korrekturen eigener Schreibfehler in fremden Pseudonymen zeigen, dass man die im Pseudonym reflektierte Identität der anderen Person achtet und respektiert und können in diesem Sinne auch als Kontextualisierungshinweis für einen personenbezogenen Rahmen dienen.
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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