Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann

Kontextualisierungshinweise in IRC

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Zweifellos ist die Chat-Interaktion eine relativ junge und in vielerlei Hinsicht von traditionellen Formen abweichende Kommunikationsform, die nach Meinung vieler Autoren Merkmale von sowohl Mündlichkeit als auch Schriftlichkeit aufweist. Dennoch handelt es sich medial immer noch um schriftlich vermittelte Kommunikation, und viele in IRC auftretende Typen von Kontextualisierungshinweisen funktionieren sicherlich nach demselben Muster wie Kontextualisierungshinweise in anderen schriftlichen Medien. Neu ist allerdings, dass sich in der Chat-Kommunikation erstmalig die Zeitdimension der Interaktion jener der Face-to-Face-Interaktion annähert und somit eine neue Klasse von Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium auftreten kann – nämlich jene, die auf der Synchronizität der Kommunikation beruht. Ein Beispiel ist etwa die Signifikanz, die Pausen beigelegt werden kann (allerdings sollte gerade diesem Signal im Chat aus technischen Gründen nicht allzu viel Bedeutung beigemessen werden).

Eigenschaften von Kontextualisierungshinweisen in IRC

Rekapitulieren wir kurz die wichtigsten Eigenschaften von Kontextualisierungshinweisen gemäß dem Ansatz der Kontextualisierungsforschung. Gehen wir von der engeren Definition des Konzepts aus, die u.a. von Auer (1992) vertreten wird, dann fällt nur "the class of non-referential, non-lexical contextualization cues" (Auer 1992: 24 ) in den Skopus der Kontextualisierungsforschung. Ausgeschlossen werden sowohl "all explicit formulations of context" (ibid. ) als auch Deiktika. Wie im Abschnitt Kontextualisierung ausgeführt, sind die folgenden Charakteristika typisch für Kontextualisierungshinweise im Face-to-Face-Bereich:

  1. Kontextualisierungshinweise sind konventionell und kulturspezifisch.
  2. Kontextualisierungshinweise besitzen keine stabile, kontextunabhängige Bedeutung.
    1. Oppositive Kontextualisierungshinweise: der Kontrast zum Bisherigen reicht aus, um eine Inferenz hervorzurufen.
    2. Kontextualisierungshinweise mit inhärentem Bedeutungspotenzial: lenken zusätzlich die Inferenzen des Rezipienten in eine bestimmte Richtung.
  3. Kontextualisierungshinweise werden immer redundant eingesetzt.
  4. Kontextualisierungshinweise sind häufig multifunktional.

Als Arbeitshypothese soll in der vorliegenden Untersuchung davon ausgegangen werden, dass diese wichtigen Grundeigenschaften auch auf Kontextualisierungshinweise in schriftlicher Kommunikation zutreffen. Im Folgenden sollen nun in diesem Zusammenhang einige Vorbemerkungen zu Kontextualisierungshinweisen in IRC aufgeführt werden.

Kontextualisierungshinweise in IRC sind konventionell und kulturspezifisch.

Anzunehmen ist, dass Kontextualisierungskonventionen in IRC wie bei Gemeinschaften im 'wirklichen Leben' unter den verschiedenen Chatgemeinschaften variieren. So wird etwa die Funktion der in den vorliegenden Daten existierende Konvention, Inflektivkonstruktionen und andere Äußerungen mit beschreibend-kommentierender Funktion in Asteriske einzuschließen (*seufz*), in englischsprachigen Chats vornehmlich durch das Setzen von Spitzklammern vermittelt (<sigh>), und häufig wird auch darauf hingewiesen, dass Emoticons nicht überall auf die gleiche Weise verwendet werden (vgl. z.B. Abel 1999: 95 ). Mit Sicherheit müssen die Kontextualisierungskonventionen der Chat-Communities ebenso erlernt werden wie jene Offline-Gemeinschaften , und es herrscht hier durchaus ein Assimilationsdruck:

Use of abbreviations, acronyms, slang and techitalk has two functions: they speed up the conversation and mark the user as in-group or outgroup. A newbie quickly picks them up, as non-use is a sign of newbiedom -- definitely the lowest status one can be!
Puterman 1994 [keine Paginierung]

Diesen 'Sozialisierungsprozess' zu untersuchen, könnte ein lohnendes Thema für weiterführende Untersuchungen sein, ebenso wie kontrastive Analysen von Kontextualisierungskonventionen in verschiedenen Chat-Gemeinschaften. Auch die Frage, ob und inwieweit die Kontextualisierungskonventionen im Chat mit jenen, die in der Offline-Community der meisten beteiligten Benutzer in Face-to-Face-Kommunikation üblich sind, variieren und inwieweit hier ein internationaler (z.B. amerikanischer) Einfluss spürbar wird, wäre ein schwierig zu behandelndes, aber hochinteressantes Thema.

Kontextualisierungshinweise in IRC besitzen keine stabile, kontextunabhängige Bedeutung.

Dieses Charakteristikum, eines der wichtigsten für Kontextualisierungshinweise in Face-to-Face-Interaktionen, ist in der vorliegenden Arbeit eine der Grundvoraussetzungen für die Identifizierung eines Phänomens als Bestandteil des Inventars an im vorliegenden Material eingesetzten Kontextualisierungskonventionen und bildet einen wichtigen Aspekt des empirischen Teils der Untersuchung.

Werden Kontextualisierungshinweise auch in IRC immer redundant eingesetzt?

Somatische Kommunikation ist multimodal – in den Worten von Gumperz,

channelled and constrained by a multilevel system of learned, automatically produced and closely coordinated verbal and non-verbal signs.
Gumperz 1982: 141

Dieses vielschichtige und wohlkoordinierte System nutzt im Normalfall mehrere Kanäle (auditiv, visuell, sensorisch) bzw. Modalitäten (verbal, paraverbal, Gestik, Mimik), in denen jeweils Kontextualisierungshinweise auftreten können und es im Regelfall auch tun. Diese Redundanzen erleichtern den Inferenzprozess und desambiguieren die kommunikative Intention des Produzenten. In IRC dagegen steht (wenn man von der wenig genutzten Möglichkeit, kurze Audiosignale zu versenden, absieht) für die Kommunikation nur der visuelle Kanal bzw. die verbale Modalität zur Verfügung. Aufgrund dieser medialen Gegebenheiten müssen die Möglichkeiten zur Kookkurrenz von Kontextualisierungshinweisen in diesem Medium notwendigerweise stark eingeschränkt sein – es gibt im Chat einfach kein Äquivalent dafür, durch eine gleichzeitige Veränderung in Prosodie, Gestik, Blickrichtung und Körperhaltung einen Wechsel der kommunikativen Rolle anzuzeigen (vgl. Auer 1992: 29 ). Da aber Redundanz in einem Kommunikationssystem grundsätzlich die Funktion erfüllt, auch bei Wegfallen eines oder mehrerer Elemente das Verständnis aufrecht zu erhalten, muss diese Tatsache nicht zwangsläufig Kommunikationsschwierigkeiten nach sich ziehen. Regelmäßige Chat-Teilnehmer sollten mit den Rahmenbedingungen 'ihres' Mediums vertraut sein und das im Vergleich zur Face-to-Face-Interaktion herabgesetzte Redundanzniveau sowohl als Produzenten wie auch als Rezipienten in der Mehrzahl der Fälle kompensieren können. Für diese Interpretation würde auch sprechen, dass ein überhäufiger Gebrauch von Kontextualisierungshinweisen wie Emoticons in der computervermittelten Kommunikation allgemein als Anzeichen von Unerfahrenheit gilt und besonders E-Mails von unerfahrenen Nutzern oft zu einem äußerst expressiven Gebrauch von Satzzeichen neigen – vielleicht bedingt durch ein gewisses Unbehagen aufgrund der geringeren Redundanz. Durchaus denkbar ist auch, dass die abweichenden Kookkurrenzeinschätzungen zumindest zum Teil dafür verantwortlich sind, dass das Medium IRC gelegentlich immer noch als 'verarmte' Kommunikationsform angesehen wird.

Kontextualisierungshinweise sind häufig multifunktional.

Diese Eigenschaft, die sich auf den Inferenz- und Rahmungsprozess beim Rezipienten bezieht (Kontextualisierungshinweise führen zu Inferenzen auf verschiedenen Ebenen), unterscheidet sich in IRC nicht wesentlich von den Gegebenheiten in der Face-to-Face-Interaktion und liegt auch dem Aufbau der vorliegenden Arbeit zugrunde. Da eine Anordnung der Kontextualisierungshinweise gemäß ihrer Funktion erfordert hätte, Ausführungen zu ein und derselben Form mehrfach einzuordnen oder zu zerstückeln, wurde eine nicht-lineare Gliederung gewählt, in der jeder Kontextualisierungshinweis sowohl gemäß seiner Form wie auch gemäß seiner Funktion auffindbar ist.

Form und Anordnung von Kontextualisierungshinweisen in IRC

Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium können ebenso wie die der Face-to-Face-Kommunikation formal in die drei Klassen segmental, suprasegmental und para- bzw. nonverbal kategorisiert werden. Suprasegmentale Kontextualisierungshinweise sind untrennbar mit der sie tragenden Äußerung verbunden (z.B. der Einsatz von Großbuchstaben, Reduplikation oder Farben). Bei segmentalen und para-/nonverbalen Kontextualisierungshinweise dagegen sind prinzipiell zwei Typen von Verhältnis zwischen Kontextualisierungshinweis und Äußerung denkbar:

Segmentale und para-/nonverbale Kontextualisierungshinweise können

  1. eine verbale Äußerung modifizieren und dadurch auf der Illokutionsebene kontextualisieren oder
  2. selbst eine verbale Äußerung ersetzen bzw. für eine verbale Äußerung stehen und damit die Interaktion auf Rahmenebene kontextualisieren.

Emoticons beispielsweise werden sowohl zur Modifikation der eigenen Äußerungen eingesetzt als auch als eigener Sprechakt gesetzt (z.B. als Rezipienzsignal).

Im Fall von Typ a), in dem ein Kontextualisierungshinweis zur Modifikation und Kontextualisierung eines Sprechakts eingesetzt wird, ergibt sich im Vergleich zur Face-to-Face-Kommunikation im schriftlichen Medium und besonders im Chat ein medial bedingtes Problem: Kontextualisierungshinweise in Face-to-Face-Interaktionen treten (aufgrund des im Abschnitt Kontextualisierungshinweise im schriftlichen Medium besprochenen multimedialen Charakters der somatischen Kommunikation) synchron mit den verbalen Äußerungen auf – etwa Gestik, Mimik und Blickverhalten – oder sind überhaupt ein integraler Bestandteil dieser Äußerungen (wie prosodische Phänomene). Dieses zeitgleiche koordinierte Auftreten von Kontextualisierungshinweis und kontextualisierter Äußerung ist im Medium IRC und in den allermeisten anderen schriftlichen Textsorten nur im Fall von suprasegmentalen Kontextualisierungshinweisen möglich. Segmentale und para-/nonverbale Signale müssen aufgrund der medialen Gegebenheiten, da nur ein Kanal zur Verfügung steht, notwendigerweise entweder vor oder nach dem kontextualisierten Sprechakt gesetzt werden (theoretisch ist auch die Unterbrechung des Sprechakts durch den Kontextualisierungshinweis möglich).

Die Betrachtung des untersuchten Materials zeigt, dass zumindest Emoticons mit überwältigender Mehrheit stets nach dem durch sie modifizierten Sprechakt gesetzt werden. In den einzelnen Fällen, in denen in einer Zeile ein Emoticon vor einer verbalen Äußerung steht, spricht alles dafür, dass es sich bei dem Emoticon um einen eigenen Sprechakt handelt, der nicht modifizierend auf die nachfolgende Äußerung bezogen ist.

Warum werden Emoticons fast ausschließlich nachgestellt? Wäre es nicht eindeutiger, desambiguierende Signale der Äußerung voranzustellen, sodass erst gar kein Missverständnis aufkommen kann? Diese Frage wäre einer eingehenderen Untersuchung wert. Gerade wenn man das Thema im Zusammenhang mit den Realisierungsformen der Kontextualisierungshinweise in der Face-to-Face-Kommunikation betrachtet, fällt auf, dass etwa Gestik häufig vor dem sprachlichen Ereignis, das sie begleiten, einsetzen:

Sie [gestische Einschnitte] setzen kurz vor dem sprachlichen Ereignis ein, das durch eine betonte Bewegung oder durch das Einnehmen der Ruheposition begleitet werden soll, und kündigen somit nicht nur diese Bewegung bzw. die Ruheposition an, sondern auch das damit verbundene sprachliche Ereignis.
Schönherr 1997: 115f.

Schönherr führt dieses Phänomen darauf zurück, dass Gestik nicht erst "grammatisch und phonologisch enkodiert werden muß" (ibid.: 116 ) und damit rascher verfügbar ist als Sprache. Nehmen wir diese Begründung jedoch auch für schriftliche Kontextualisierungshinweise wie Emoticons an, müssten wir davon ausgehen, dass diese deshalb nachgestellt werden, weil die Enkodierung von metasprachlicher Information in Emoticons noch länger dauert als die Enkodierung in Sprache; eine Erklärung, die nicht restlos zu überzeugen vermag. Hier müssten psycholinguistische Untersuchungen ansetzen.

Noch gewagter wäre es freilich, anzunehmen, dass sich der Produzent beim Schreiben der Äußerung möglicherweise gar nicht bewusst ist, dass diese für einen Rezipienten potenziell missverständlich ist – vielleicht deshalb, weil es einer zumindest semi-bewussten Anstrengung bedarf, daran zu denken, dass die Kontextualisierungshinweise der somatischen Kommunikation dem Empfänger in einer schriftlichen Interaktion ja nicht zugänglich sind? Wie Studien zur Subvokalisation gezeigt haben, materialisiert sich beim Schreibenden während der Produktion einer Äußerung auch deren phonologische Ausgestaltung. Möglicherweise realisiert der Produzent die mangelnde Übertragbarkeit dieses Kanals über das schriftliche Medium erst, nachdem die Äußerung fertig gestellt ist und kompensiert diesen Mangel mittels eines Emoticons. Auch diese Hypothese müsste mit psycholinguistischen Mitteln einer Überprüfung unterzogen werden.


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© Alexandra Schepelmann 2002-2003

Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann