Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
Fazit |
In der vorliegenden Arbeit sollte die
Kontextualisierungstheorie nach Gumperz auf die
Interaktion via Internet Relay Chat angewandt
werden. IRC ist eine Form von synchroner computervermittelter Kommunikation, die
trotz ihrer medialen Schriftlichkeit zahlreiche Merkmale konzeptioneller
Mündlichkeit (vgl. Koch & Österreicher 1994
Der theoretische Hintergrund zur vorliegenden Arbeit ist die Kontextualisierungstheorie nach John J. Gumperz sowie in weiterem Sinne das Rahmenkonzept nach Bateson und Goffman. Der Rahmen ist als eine Form von Erwartungsstruktur ein grundlegendes Element der Kontextualisierungstheorie: bestimmte, unauffällige Signale - sprachlicher oder auch para- bzw. nonverbaler Natur - , sogenannte Kontextualisierungshinweise, rufen beim Rezipienten einen bestimmten Interpretationsrahmen hervor, der dann die Interpretation des Geschehens auf verschiedenen Ebenen leiten kann. In der vorliegenden Arbeit wurde als Gliederungsgrundlage der Ansatz von Schmitt (1993) gewählt, der drei Ebenen anführt, auf denen derartige Inferenzen eintreten können:
Entsprechend dieser Unterteilung wurden die in der empirischen Untersuchung identifizierten Kontextualisierungshinweise zusätzlich zu einer formalen Aufstellung funktional gemäß der Ebene, auf der sie wirksam werden können, klassifiziert. Obgleich die Kontextualisierungstheorie auf dem Rahmenkonzept aufbaut, findet
sich doch in diesen beiden Ansätzen ein scheinbares Paradoxon betreffend den
Schlüsselbegriff Kontext. Während
Goffman seinen Kontextbegriff definiert als
"unmittelbar vorhandene Ereignisse, die mit einer Rahmenauffassung verträglich
sind und mit anderen unverträglich" (Goffman 1977 [1974]: 472
Interessanter Weise existiert erst wenig Literatur zum Thema
'Kontextualisierung in schriftlicher Kommunikation'. Androutsopoulos (1998)
Vor Beginn der eigentlichen Untersuchung wurden einige theoretische Vorüberlegungen angestellt. So wird zunächst die Frage, wie der Kontextbegriff in IRC zu handhaben ist, angesprochen. In der vorliegenden Arbeit wird die Ansicht vertreten, dass es aufgrund der in der Kontextualisierungsforschung vorherrschenden Konzeption von Kontext als Rahmen trotz der offensichtlichen Unterschiede in den materiellen Gegebenheiten nicht notwendig ist, eine grundlegende Unterscheidung zwischen Kontext in IRC und Kontext in der Face-to-Face-Interaktion zu treffen: ob das fragliche kontextuelle Element nun real existiert oder nur im Chatroom erwähnt worden ist, macht letztendlich keinen Unterschied bezüglich seiner Position als Rahmenelement. Wie können nun Kontextualisierungshinweise in IRC aussehen? Zunächst wurde eine grundlegende Unterscheidung getroffen zwischen Kontextualisierungshinweisen, die eine verbale Äußerung modifizieren und dadurch auf der Illokutionsebene kontextualisieren und jenen, die selbst eine verbale Äußerung ersetzen bzw. für eine verbale Äußerung stehen und damit die Interaktion auf Rahmenebene kontextualisieren. Zudem wird salient, dass in IRC im Regelfall nur ein Kommunikationskanal - der visuelle - zur Verfügung steht und daher keine Signale zeitgleich mit dem verbalen Output produziert werden können. Kontextualisierungshinweise können entweder vor oder nach dem durch sie modifizierten Element gesetzt werden. Hier konnte beobachtet werden, dass im vorliegende Datenmaterial mit überwältigender Mehrheit letztere Strategie gewählt wird, ein Phänomen, das ein lohnender Gegenstand für eine psycholinguistische Untersuchung sein könnte. Möglicherweise besteht hier ja ein Zusamenhang mit dem interessanten, aber wenig beachteten Phänomen der Subvokalisation - der Tatsache, dass beim leise Lesen in den allermeisten Fällen 'innerlich mitgesprochen' wird. Um konkrete Typen von Kontextualisierungshinweisen zu identifizieren, wurden ca. 40 Protokolle von Chat-Sessions unterschiedlicher Länge (jeweils ca. 100 bis 2500 Zeilen), welche im Januar und Februar 2000 in verschiedenen Channels eines in Wien basierten Chat-Servers stattfanden, aufgezeichnet und anhand von zwei einander ergänzenden Herangehensweisen untersucht: Einerseits wurden auf Basis der Literatur zur
Kontextualisierungsforschung wichtige
Kontextualisierungshinweise aus
der Face-to-Face-Kommunikation identifiziert und versucht, Stellenwert und
Funktionsweise derselben Phänomene im
Datenmaterial ausfindig zu machen. Andererseits wurde das Datenmaterial
selbst in mehreren Durchgängen auf mögliche Kontextualisierungskonventionen
untersucht und versucht, die Ergebnisse zu
bekannten Erkenntnissen aus der Literatur in Beziehung zu setzen. Da die Teilnehmer zwecks Vermeidung von Verzerrungen nicht über die Tatsache informiert wurden, dass ihre Äußerungen Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein würden, stellte sich die Frage des Datenschutzes. Nach Rücksprache mit der Datenschutzkommission wurde deshalb eine Vorgangsweise erarbeitet, die zwar die Anonymität der Teilnehmer schützt, es aber trotzdem erlaubt, die soziologisch und linguistisch sehr ergiebigen Nicknames zu untersuchen: in der vorliegenden Arbeit werden die Pseudonyme dann anonymisiert, wenn sie im Zusammenhang mit Äußerungen des betreffenden Teilnehmers stehen. Allein stehende Nicknames werden unverändert zitiert. Anhand der vorliegenden Untersuchung konnte gezeigt werden, dass das Erklärungsmodell der Kontextualisierungstheorie (mit gewissen Adaptionen) durchaus auch für ein schriftliches Kommunikationsmedium geeignet ist, und es konnten zahlreiche Phänomene identifiziert werden, denen der Status von Kontextualisierungshinweisen in IRC zugesprochen werden kann. Die einzelnen Typen von Kontextualisierungshiweisen und ihre Hauptfunktionen werden in einem tabellarischen Überblick vorgestellt - die oben ausgeführte Klassifikation gemäß der Ebene, auf der sie Inferenzen hervorrufen, zeigt, dass Kontextualisierungshinweise in IRC auf der Ebene des Conversational Managements nur eine geringe Rolle spielen und auch auf Sprechaktebene zumindest nicht immer eindeutig identifiziert werden können, dafür aber auf Rahmenebene umso bedeutsamer sind. So ist auf der Ebene des konversationellen Managements zu beachten, dass es
etwa Überlappungen und
Unterbrechungen im üblichen Sinne in diesem Medium nicht geben kann, da die
Produktion der Gesprächsbeiträge aufgrund der technischen Gegebenheiten von
jedem Teilnehmer unabhängig von und ohne Kenntnis des Verhaltens der anderen
Interaktanten erfolgen muss. Weiters wird gezeigt, dass
Rezipienzsignale im Chat (darunter können
neben Transkriptionen der face-to-face eingesetzten Vokalisationen nach dem Typ
mhm auch Emoticons oder
drei Punkte fallen) nicht primär dem Turn-Taking
dienen, sondern häufig in einem sozialen Rahmen
gesehen werden müssen: wer sich die Mühe macht, derartig inhaltslose Äußerungen
einzutippen, tut das nur, wenn er damit den messaging threshold (vgl.
Wintermantel und Becker-Beck 1999
Kontextualisierungshinweise,
die auf Sprechaktebene wirksam werden, beeinflussen
durch den von ihnen in den Vordergrund gerufenen Rahmen die Interpretation der
illocutionary force des modifizierten Sprechakts. Eindeutig zu
identifizieren sind solche Formen im vorliegenden Datenmaterial vornehmlich in
zwei Bereichen: der Signalisierung von Emphase und der Kennzeichnung von
uneigentlicher Kommunikation. Wie etwa auch von Bader (2002)
Dasselbe gilt auch für die ebenfalls auf Sprechaktebene bedeutsamen
Emoticons. Zahlreiche Arbeiten (z.B. Geers 1999: 92
Besonders salient werden Kontextualisierungsstrategien im untersuchten Material auf Rahmenebene, wo mit ihrer Hilfe eine Reihe von in der IRC-Interaktion immer wiederkehrenden Typen von Rahmen inszeniert werden. Dieser Abschnitt wurde nach Goffman in natürliche Rahmen und soziale Rahmen unterteilt. Als Kontextualisierungsstrategie für einen natürlichen Rahmen konnte in den vorliegenden Daten das Versehen von Nicknames mit Zusätzen zur Signalisierung des Präsenzstatus des Teilnehmers identifiziert werden. Da es in IRC unmöglich ist, festzustellen, aus welchen Gründen ein anderer Teilnehmer gerade schweigt - ist er anwesend, aber beleidigt, laboriert er unter einer Netzwerkverzögerung (lag), ist er Kaffee holen gegangen oder hat gar sein Vorgesetzter das Büro betreten? -, versehen versierte Chatter im Falle einer Abwesenheit ihr Pseudonym mit Zusätzen wie ned_da, aufräumen, essen oder hackln, die ihren Gesprächspartnern Inferenzen über Grund und Dauer einer mangelnden Teilnahme an der Interaktion erlauben. Kontextualisierungsstrategien, die sich auf einen sozialen Rahmen beziehen, gehören zu den weitaus häufigsten im Datenmaterial. Aus diesem Grunde wurde der Abschnitt Sozialer Rahmen ein weiteres Mal unterteilt. Personenbezogene Rahmungen heben einen Rahmen zur Person des Produzenten oder zur Beziehung zwischen Produzent und Rezipient hervor; situationsbezogene Rahmungen beziehen sich auf die Interaktion selbst. Ein immer wiederkehrender und zweifelsfrei besonders relevanter
personenbezogener Rahmen ist die Inszenierung von unterstützender
Solidarität. Organisiert rund um die
Metapher der 'Virtual Community' (vgl. Bays 1998: section 3:2
Unter der Gruppe von Kontextualisierungshinweisen, die einen auf den Produzenten bezogenen Rahmen verweisen können, finden sich Strategien wie die Korrektur eigener Tipp- bzw Rechtschreibfehler, wodurch auch eine möglicherweise irrige Erwartungsstruktur, die sich bei den Rezipienten vielleicht bezüglich Alter, Intelligenz oder Bildungsniveau des Produzenten gebildet haben könnte, korrigiert werden kann. Der Gebrauch der syntaktischen Form des Inflektivs kann dazu dienen, eine gewisse Distanz zwischen Produzent und Sprechakt zu inszenieren. Fragezeichen schließlich können dazu eingesetzt werden, eine Reihe an seelischen Zuständen seitens des Produzenten zu rahmen - von Orientierungslosigkeit über Erstaunen bis zum Erkenntnisinteresse. Auf der Ebene der situationsbezogenen Rahmungen konnten unter Bezug auf die
Literatur zwei Typen von Rahmen als besonders relevant identifiziert werden. Zum
einen spielt die Rahmung der Interaktion als
spielerisch eine wichtige Rolle
- so charakterisiert Georgakopoulou (1997: 147)
Der zweite wichtige situationsbezogene Rahmen wird in der interessanten
Arbeit von Rosenau (2001)
Oszillation zwischen einem 'sich-anheimgeben' dem inneren
Rahmen der face-to-face-Interaktion sowie einem 'sich-bewußt-machen' des äußeren
Rahmens der Fern-Interaktion[.] Im vorliegenden Datenmaterial verweisen zahlreiche Elemente auf die Inszenierung von Mündlichkeit. So ist etwa die häufige Verwendung von dialektalen und umgangssprachlichen Schreibweisen ein deutlicher Kontextualisierungshinweis für diesen Rahmen der modulierten Mündlichkeit. Zweifellos sind einige der in der vorliegenden Arbeit gezogenen Schlussfolgerungen bis zu einem gewissen Grad Interpretationssache. Auch kann das Thema im vorgegebenen Rahmen zwangsläufig nicht erschöpfend behandelt werden - viele Fragen müssen offen und etliche Überlegungen Spekulation bleiben. Allerdings hoffe ich, mit den hier vorgestellten Ergebnissen vielleicht einen kleinen ersten Schritt zu einer systematischen Untersuchung von Kontextualisierungshinweisen im schriftlichen Medium gemacht zu haben. Schließen möchte ich mit den Folgerungen, die Naomi Baron, eine der
Pionierinnen der linguistischen Betrachtung von computervermittelter
Kommunikation, aus ihren Untersuchungen der Kommunikationsgeschichte von
Telegraph, Telephon und E-Mail (publiziert 1999 unter dem bezeichnenden Titel
"History Lessons"
This ‘telephone’ has too many shortcomings to be seriously considered as a means of communication. The device is inherently of no value to us. Ein zweiter Schluss, den Baron aus der Geschichte der Kommunikationsmedien zieht, ist, dass diese einander im Regelfall nicht ersetzen (wie von Kulturpessimisten immer wieder vorhergesagt), sondern ergänzen - eine Ausnahme ist der Telegraf, der mit dem Aufkommen schnellerer und effizienterer Technologien immer mehr an Bedeutung verloren hat. Als dritten Punkt diagnostiziert Baron einen Einfluss neuer Kommunikationsmedien auf ältere - Third, new language technologies not only introduce additional venues for
communication but also reshape existing forms of social discourse. Such
influence may appear in the realm of speech (e.g., the impact of the telephone
on face-to-face encounters) or writing (e.g., the effect of telegraphy on
traditional written prose and the potential influence of email on personal and
business writing). Auch im Bereich der computervermittelten Kommunikation wird dieser Effekt bereits spürbar - der einst einer computerkundigen Minderheit vorbehaltene Smiley ist mittlerweile allgegenwärtig, und nach eigenen (nicht repräsentativen) Beobachtungen werden der Chat-Kommunikation entstammende Kürzel wie lol und rotfl bereits in der mündlichen Interaktion verwendet. Als vierte und letzte Lektion kommt Baron zu dem Schluss that technologies can redefine relationships between
participants in social discourse, particularly with regard to social distance
and control. While these relationships are shaped in part by the technologies
themselves, other important factors are economic considerations, newly emerging
communicative functions, cultural influences, and individual choice. Und: As we round the millennium, it will be fascinating to see
how this balance plays out.
© Alexandra Schepelmann 2002-2003
Teil der Diplomarbeit "Kontextualisierungskonventionen im Internet Relay Chat" (Originalfassung, Stand 2003) von Alexandra Schepelmann
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